Wenn Michael Weisser einmal auf den Geschmack gekommen ist, beißt er sich fest und gräbt immer tiefer, um jedes kleine Detail zu erforschen. „Wenn ich intensiv an etwas arbeite, sieht mich meine Frau kaum noch“, erzählt der Medienkünstler. „In ein Thema, das mich wirklich interessiert, kann ich tief eintauchen. Dann sind alle meine Sinne geschärft und die Neugier treibt mich an. Ich schaue nach links und rechts und gehe auch Umwege bei der Recherche, um ein möglichst scharfes Bild zu schaffen.“
Das letzte Projekt seiner Bremen-Trilogie über den Baumeister und Unternehmer Lüder Rutenberg hat einen Umfang von 656 Druckseiten und wiegt als Buch ganze 3000 Gramm. Aber das sei nur die Quintessenz aus seinem digitalen Archiv mit mehr als 30.000 Dokumenten, sagt Weisser. Dazu könne er viele Anekdoten erzählen, von Besuchen bei Hauseigentümern zum Beispiel und Begegnungen auf der Straße beim Fotografieren. Doch erst einmal ist da das frisch gedruckte Buch, das ein wichtiges Stück Bremer Geschichte neu beleuchtet.
Das typische Bremer Haus
Viele Menschen verbinden mit Lüder Rutenberg (1816-1890) das typische Bremer Haus, das im 19. Jahrhundert vor allem in der Östlichen Vorstadt in Variationen entstanden ist. Doch Rutenbergr hat zahlreiche weitere Spuren in der Hansestadt hinterlassen. So war er zum Beispiel 1849 für den Bau der Kunsthalle verantwortlich, dessen Ausschreibung er im jungen Alter von 31 Jahren gewann und mit dem seine erfolgreiche Karriere begann.

Die Villa Rutenberg in der Straße Am Dobben in seit 1979 der Sitz des Ortsamts Mitte/Östliche Vorstadt.
Und oft wird vergessen, dass er auch der Gründer und Mitinhaber der damaligen Kaiserbrauerei Beck & Co war. „Das Buch beschränkt sich aber nicht auf das Wirken des Baumeisters und Brauereigründers, sondern es bindet Rutenberg ein in die Baugeschichte der Vorstadt. Mit seinen Architekturen prägte er Straßenzüge wie die Humboldtstraße, den Dobben, die Contrescarpe, den Osterdeich und plante sogar eigene Straßen wie die Rutenstraße, die Mathildenstraße und die Herderstraße. Auch das Rutenstift neben der Friedenskirche, der Rutenhof am Domshof und das monumentale Mausoleum seiner Familie auf dem Riensberger Friedhof gehen auf sein Konto“, berichtet Weisser. „Aus gutem Grund ist Lüder Rutenberg als der bedeutendste Baumeister Bremens im 19. Jahrhundert zu bezeichnen."
Einsicht ins Familienarchiv
Weissers Interesse an dem berühmten Bremer ergab sich aus vorangegangenen Projekten. Ein Jahr lang beschäftigte er sich mit dem Riensberger Friedhof, fotografierte Grabanlagen zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, sammelte Grabdokumente, erforschte die Geschichte und veröffentlichte die Ergebnisse in einem Buch. Im Verlauf dieser Recherche erfasste er auch das Mausoleum der Familie Rutenberg am Friedhofssee.

Am Rande des Friedhof-Sees und unweit des Kolumbariums befindet sich eine der eindrucksvollsten Grabstätten auf dem Riensberger Friedhof – das Rutenberg-Mausoleum.
Der Kontakt zu den Nachkommen, der Kaufmannsfamilie Leisewitz, intensivierte sich und er wurde gebeten, eine Chronik der Familie zu schreiben. „So bekam ich Zugang zum Familienarchiv und fand unter den erhaltenen Quellen originale Dokumente zu Rutenberg. Ich fühlte mich wie auf einer abenteuerlichen Expedition, auf der ich Neuland betrete und Unbekanntes entdecke. Dann betrat ich den verschlossenen Andachtsraum im Mausoleum und sah die Deckenbemalung von Arthur Fitger, die Büsten von Kropp und den Brüdern Everding und war sogar unter der Erde in der Gruft zwischen den alten Zinksärgen von Lüder und seiner Frau. Das brachte mich dem Baumeister sehr nahe.“
Suche nach verborgenen Quellen
Während seiner Recherche bemühte sich Weisser vor allem um die verborgenen Quellen. Er entdeckte viele bislang unbekannte Unterlagen, Bilder und Pläne, die sowohl aus privaten als auch öffentlichen Archiven stammen. Mehr als drei Jahre lang hat er Dokumente gesucht, digitalisiert und ausgewertet, Chronologien der Geschehnisse erstellt und dann die Geschichte geschrieben. Parallel erfolgte die fotografische Dokumentation der Bauwerke außen und innen, wofür er den persönlichen Kontakt zu den Bewohnern suchte. Daraus wuchs das immer umfangreicher werdende Buch mit 1056 Abbildungen, das im Frühjahr dieses Jahres beim Verlag Isensee in Oldenburg in den Druck ging. Ergänzt wird es durch das digitale Archiv.
Bei alldem sieht sich der gebürtige Cuxhavener als Künstler, der nicht nur Kunst, sondern auch Kunstgeschichte studiert hat. „Mich interessiert der Vordergrund genauso wie der Hintergrund. Bei diesem Projekt ging es mir zum einen um die Frage, inwieweit eine wissenschaftlich-präzise Forschung meine Wahrnehmung derart verändert, dass neue künstlerisch-assoziative Formen entstehen. Zum anderen ging es um das Experiment einer zeitgemäßen Vernetzung der vermeintlichen Gegensätze Wissenschaft und Kunst. Im Fokus standen also nicht zwingend ein dickes Buch oder ein spektakuläres Bild oder eine Ausstellung.“ Auf die Frage, welche Qualitäten man braucht, um so ein Projekt durchzuführen zu können, antwortet er prompt: Es seien „nur“ die fünf Qualitäten, die auch Lüder Rutenberg miteinander verbunden habe, nämlich Neugierde, Mut, Weitblick, Kreativität und Ausdauer.