Kaum ein Baum, auf den er im vergangenen Jahr nicht geblickt hat. Im Nebel, im Sonnenlicht, bei Regen als auch bei Schnee. Kaum ein Grab, das er nicht länger studiert hat und bei dem er sich nicht für die persönliche Geschichte interessierte. Ein Jahr lang war Michael Weisser auf Entdeckungsreise durch den Riensberger Friedhof. Als Künstler, aber ebenso als Forscher, der „Heimat“ neu sehen will. Die Arbeit fügt sich ein in sein intermediales Projekt „Bremen-Ansichten“, für das er 2019 von dem Verein Wittheit zu Bremen mit dem Preis für Heimatforschung ausgezeichnet wurde. Die Ergebnisse hat er in einem Buch verewigt. 448 Seiten und 614 Abbildungen sind zusammengekommen. Dabei verbindet er gezielt analog mit digital. Denn die im Buch abgedruckten QR-Codes leiten auf seine Internetseite www.rice.de weiter und laden dort zu virtuellen Spaziergängen ein mit Informationen, Bildern, Dokumenten, Geschichten und sogar Klängen.
„Das Projekt ist meine persönliche Reaktion auf Corona. Als ich im Februar 2020 die Pandemie kommen sah, wurde mir bewusst, dass meine geplanten künstlerischen Feldforschungen in fernen Ländern bis auf Weiteres nicht mehr möglich sein würden“, erzählt Weisser. „Alle gebuchten Reisen habe ich storniert und durch einen Ort in meiner Nähe ersetzt. Dieser Ort musste von meinem Atelier aus einfach zu erreichen sein, er musste einen hohen Faszinationswert für mich haben, thematisch und räumlich definiert werden können, von Menschen leer und möglichst komplex sein, damit ich lange und alleine daran arbeiten konnte.“
"Der wohl schönste Bremer Friedhof"
Seine Wahl fiel auf den 1875 eröffneten Riensberger Friedhof. „Für mich ist es der wohl schönste Bremer Friedhof“, sagt Weisser. Alle zwei Tage flanierte er entlang der verschlungenen Wege, ließ sich treiben und fotografierte zu verschiedenen Tageszeiten, Lichtverhältnissen und Witterungen das, was ihn emotional ansprach. „Die Bilddateien habe ich ausgewählt, beschriftet und nach Grabnamen oder Themen geordnet. So wurde mir deutlich, dass mich bestimmte Motive immer wieder angezogen haben. Die Grabmale oder Themen wie Vegetation habe ich dann analytisch ausgearbeitet, von der Totalen bis in die Details.“
So wuchs ein digitales Bildarchiv, das nach zwölf Monaten und strenger Auswahl rund 3.000 Bilder umfasst und die Basis für Weissers erste künstlerische Experimente bildete. „Ich bin der Frage nachgegangen, ob die wissenschaftliche Forschung meine Wahrnehmung verändert, ob ich diesen Ort plötzlich anders sehe, wenn ich aus den Archiven komme.“ Kunststile, Materialien, Formen, die verschiedenen Architekturen und die Inschriften in Form von Familiennamen weckten sein Interesse. „Man sucht Zusammenhänge zwischen dem historischen Zeitgeist und den Ausdrucksformen, den Familien und ihren Gräbern“, erklärt Weisser, „und man sucht nach der Entstehungsgeschichte des Friedhofs und fragt nach der Bedeutung der Bauwerke.“
Der gebürtige Cuxhavener forschte im Staatsarchiv und wandte sich im Sommer letzten Jahres an der WESER KURIER. Er bat Bremer Familien um Hilfe – mit Erfolg. Ihm wurden zahlreiche Dokumente anvertraut, die ihm neue Einblicke in die Vergangenheit boten. Noch heute bekommt er Material zugesendet, womit er sein Archiv ständig erweitert. Darunter Zuschriften aus Südamerika, den USA und Kanada. „Alle Grabdokumente, Trauerreden, Korrespondenzen, Fotos, Prospekte und Annoncen habe ich digitalisiert und so ein umfangreiches eigenes Archiv zur Geschichte des Riensberger Friedhofs aufbauen können.“ Währenddessen lüftete er manches Geheimnis. „Ich fand immer mehr Details heraus“, sagt er und nennt ein Beispiel: „Die Frauenskulptur auf dem Grabstein von Johann Georg Lohmann, einem Bremer Kaufmann und von 1877 bis 1892 Direktor des Norddeutschen Lloyd, winkt mit hoffnungsvoller Geste einem Schiff zu. Ich erfuhr, dass es sich dabei um die 1881 erbaute und 1895 gesunkene „Elbe“ handelt, dem von Lohmann eingesetzten ersten Schnellschiff des Norddeutschen Lloyd, das von Bremen nach New York fuhr.“
Beide Mausoleen betreten
Ein besonderes Erlebnis war es für den Medienkünstler, dass er gleich beide Mausoleen betreten durfte. So etwas sei so gut wie unmöglich und brauche viel Vertrauen, betont er. Und noch ein weiterer wichtiger Kontakt ergab sich: Die Bremer Familie Leisewitz beauftragte Michael Weisser nach Besichtigung der Mausoleumskapelle und der darunter befindlichen Gruft mit ihrer Familienchronik. Eine Arbeit, die er zunächst nicht annehmen wollte, dann aber „floss sein Herz über“, als er das Material in den Händen hielt. „Die Rutenberg-Familienstiftung öffnete ihr Privatarchiv zu den Bremer Familien des Baumeisters und Gründers der Brauerei Beck & Co, Lüder Rutenberg und dessen Schwiegersohn Lambert Leisewitz. Die Quellenlage hat mich mitgerissen und aus dieser Begeisterung heraus habe ich zugesagt. Das Buch dazu ist gerade fertiggestellt. Als neues Projekt beschäftigt mich jetzt die Familie Rutenberg.“
Michael Weisser selbst erklärt sein Interesse an der Verbindung von Heimatforschung und Medienkunst so: „Wenn man nicht nur Kunst, sondern anschließend noch Kunstgeschichte in Verbindung mit Politik, Soziologie und Kommunikationswissenschaften in der Zeit der 1968er-Jahre studiert hat, ist die generelle Sichtweise kritisch geschärft.“ Sein Werk entwickelt sich zwischen wissenschaftlich präziser Forschung und emotionaler Kunst als eine Verschmelzung der Medien Bild, Klang und Wort und das im realen Raum einer Ausstellung oder Installation wie auch im virtuellen Raum des Internets. Die Kunst biete ihm allen Freiraum, den er dafür brauche. Hier könne er sich kompromisslos entfalten.
Das Archiv wird Weisser vermutlich an eine öffentliche Institution übergeben, um es für Forschung, Lehre und die Öffentlichkeit bereitzustellen. Sein Buch „Der Riensberger Friedhof in Bremen 1811–2021. Intermediale Heimatforschung und Quellensammlung als zeitgemäßer Beitrag zur Sepulkralkultur“ ist im Isensee Verlag Oldenburg erschienen und kostet 75 €.