Von Anfang November bis Ende März, nimmt sich der Kältebus der Johanniter, viermal pro Woche auf dem Bahnhofsplatz der Obdachlosen an. Der Bus ist eine rollende Kleiderkammer und mobile Essensausgabe.
Sperrangelweit ist sie geöffnet, die Heckklappe des alten Ford Transit. Im Kofferraum stehen zwei Kisten mit Fünf-Minuten-Terrinen, daneben ein paar Kannen Kaffee und heißes Teewasser. Davor ein Campingtisch, an dem sich immer wieder Obdachlose einfinden.
Zielstrebig zumeist, der Transit mit dem Johanniter-Kreuz ist bekannt, der Standort auch. Doch in dem betagten Gefährt steckt noch mehr als nur Ess- und Trinkbares. Im Innenraum stapeln sich Schlafsäcke, gibt es Schuhe, Socken, Schals und Mützen. Was der Mensch so braucht, wenn er auf der Straße lebt und der Winter naht.
Kältebus-Saison hat begonnen
Anfang November hat die Kältebus-Saison begonnen, bis Ende März rumpelt der alte Transit viermal pro Woche auf den Bahnhofsplatz. Der Kältebus der Johanniter ist einzig in Bremen, eine rollende Kleiderkammer, eine mobile Essensausgabe. Zum ersten Mal auf Tour war der Kältebus im Februar 2012, damals noch in Kooperation mit der Inneren Mission.
Seither hat sich der Kältebus als Anlaufstelle längst etabliert. Stundenlang steht er auf seinem Stammplatz auf der Seite des Übersee-Museums – so lange, wie der Vorrat reicht. „Es ist jedes Jahr dasselbe“, sagt Alexander Ludwig, die treibende Kraft im ehrenamtlichen Kältebus-Team. „Erst lassen sich nur acht bis zehn Leute blicken, dann werden es immer mehr. Wenn es richtig frostig ist, können es schon mal 60 bis 70 sein.“
An diesem kalten Abend sind vor allem Handschuhe gefragt. Doch mit denen kann Alexander Ludwig nicht dienen. Noch nicht. „Ein bisschen Geduld“, sagt er, „die kriegen wir schon noch rein.“ Auch Mützen sind rar, da muss ein Mann schon mal mit einer Frauenmütze vorliebnehmen. Einer fragt nach einer Decke, ein anderer nach einem Regenschirm.
Es werden auch Bestellungen aufgenommen
Dann wieder drückt der Schuh bei den Schuhen, die passende Größe findet sich nicht. Für Alexander Ludwig kein Problem: „Wir nehmen auch schon mal Bestellungen auf.“ Der Rettungsassistent hat den Überblick, bei ihm laufen die Fäden zusammen. Und doch ist der 37-Jährige nur einer von vielen. Insgesamt beteiligen sich 16 Freiwillige an den Touren, jedes Mal gehen drei mit auf die Piste.
Unter den ersten, die sich etwas Warmes abholen, ist Mario, ein echter Stoiker. Der frühere Lastwagenfahrer lebt seit zwei Jahren auf der Straße. Erst verlor er seinen Führerschein, dann seinen Job und die Familie. Zu seinen beiden Kindern hat der 45-Jährige keinen Kontakt mehr. „Es war Gottes Wille“, sagt er, „ich gehe auf Gottes Wegen.“
Unter einer Brücke hat er seine Wohnstatt aufgeschlagen, da sei es wenigstens immer trocken. Sehnt er sich denn nicht nach seinem früheren Leben? Es hat nicht den Anschein. Mario sagt, er habe sich abgefunden mit seinem Dasein als Obdachloser. Und lässt durchblicken, dass es sogar seinem Naturell entspricht. „Ich bin ein Naturfreund“, sagt er. „Draußen zu schlafen, macht mir nichts aus.“
Transit ist Baujahr 1984
Fragt sich nur, wie lange es der Kältebus noch macht. Der Transit stammt noch aus den Zeiten des Kalten Krieges, ist Baujahr 1984. Die Türen knarren, die Gänge lassen sich ohne erheblichen Kraftaufwand kaum schalten, für jede einzelne Tür gibt es einen anderen Schlüssel. „Den fahre ich nicht mehr“, sagt Tatjana Tanz mit größter Bestimmtheit, die einzige Frau in dem dreiköpfigen Montagabend-Team.
Unüberhörbar ist ihr leichter, osteuropäischer Akzent. Die dreifache Mutter stammt aus Lettland, seit 25 Jahren lebt sie in Bremen. Die Obdachlosen sind ihr ans Herz gewachsen, sie empört sich über die Schließung des Papageienhauses, die langjährige Unterkunft für Wohnungslose.
„Warum mietet man nicht ein neues Gebäude an? Für alles Mögliche gibt es Geld, bloß für Obdachlose nicht!“ Unter Freunden nennt man sie schon mal neckisch „Mutter Theresa“, aber sie hat auch etwas von „Mutter Courage“.
„Schlafen Sie draußen?“, fragt Alexander Ludwig fast jeden einzelnen Neuankömmling. Aber nicht in inquisitorischer Absicht, nicht um sich ihrer Bedürftigkeit zu versichern. Er will nur wissen, ob Bedarf nach einem Schlafsack besteht. Und zwar nach einem winterfesten Exemplar. „Die meisten haben nur Sommerschlafsäcke“, sagt er, „die kann man jetzt nicht mehr gebrauchen.“ Seine Alternative: tschechische Schlafsäcke, die sogar noch bei minus 22 Grad warmhalten.
Viele Obdachlose sind Ausländer
Etwa ein Drittel der Obdachlosen sind Ausländer. Häufig Rumänen, Bulgaren oder Inder, die auf der Suche nach Arbeit in Bremen gestrandet sind und nur gebrochen Deutsch sprechen. „Die zeigen uns dann eben, was sie haben wollen“, berichtet Alexander Ludwig. Aber auch Flüchtlinge sind unter den Hilfesuchenden anzutreffen.
Gibt es böses Blut, ein Konkurrenzverhalten zwischen einheimischen und ausländischen Obdachlosen? Zumindest Irritationen, wie aus den Antworten herauszuhören ist. Aus dem Hauptbahnhof würden die nicht davongejagt, meint ein einheimischer Obdachloser. Und wie sieht es am Kältebus aus?
„Die Einheimischen stellen sich in der Regel an“, sagt Alexander Ludwig, „die Ausländer nicht.“ Und warum nicht? „Weil sie zum Beispiel die besten Schuhe haben wollen.“ Also Verteilungskämpfe. „Aber das kriegen wir schon in den Griff“, sagt Ludwig, „bei uns geht keiner leer aus.“
Nicht jeder sieht aus wie ein Obdachloser
Nicht jeder Obdachlose sieht auch aus wie einer. Zu fortgeschrittener Stunde nähern sich zwei junge Männer in tadelloser Kleidung und sauberen Schuhen. Beide tragen Vollbart, aber diese Bärte sind gepflegt, fein gestutzt, einer hat sogar gezupfte Augenbrauen.
„Ihr seid doch keine Obdachlosen!“, raunzt Tatjana Tanz sie an. Sind sie doch, wie sich nach kurzer Zeit herausstellt. Enrico, der Dritte im Bunde der Johanniter, kennt die beiden, er winkt sie durch. So kann man sich täuschen, selbst wenn man schon lange dabei ist.
Der eine von ihnen heißt Cem und ist 25 Jahre alt. Er macht eine hilflose Handbewegung. „Auch als Obdachloser muss man sich doch pflegen“, sagt er. Sich gehen zu lassen, auszusehen wie so viele andere auf der Straße ist für ihn eine Horrorvorstellung.
Kaum Chancen auf einen Job
Cem ist gelernter Maurer, er hat einen Führerschein. Und doch kein Dach über dem Kopf, keine feste Arbeit. Immer wieder lasse er sich beim Jobcenter blicken, sagt er, spreche bei Zeitarbeitsfirmen vor. Aber es bringt alles nichts, derzeit hilft er nur beim Entrümpeln aus. Dabei ist er vor einem halben Jahr aus Hannover nach Bremen gekommen, um noch einmal neu anzufangen.
Das wollte auch sein Kumpel, die beiden kennen sich schon seit Grundschulzeiten. Steven hat Frau und Kinder bei einem Autounfall verloren, das warf ihn aus der Bahn. Früher hat er mal beim Schiffbau in Wilhelmshaven gearbeitet, nun bekommt er noch nicht einmal eine Wohnung.
„Die kriegen doch meistens nur Studenten oder Flüchtlinge“, sagt der 28-Jährige resigniert. Ihre Nächte verbringen Steven und Cem am Güterbahnhof. Doch auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt wollen sie noch eine Weile ausharren.
„Da gehen wir erst weit nach Mitternacht hin“, sagt Cem, „wenn die anderen schon schlafen.“ Von Drogen wollen die beiden nichts wissen. „Den Scheiß geben wir uns nicht“, sagt Cem bevor er und sein alter Freund abdrehen.
Die Hände tief in den Taschen vergraben, trotten sie in Richtung Bahnhof, um noch einmal Wärme zu tanken, bevor der Sicherheitsdienst sie wieder an die Luft setzt. An die kalte Luft an diesem winterlichen Montagabend.