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Bevölkerungsentwicklung Auf der Spur der Millionenstadt Bremen

Bis heute wird vom "Traum von der Millionenstadt Bremen" gesprochen. Doch tatsächlich hat es dieses Ziel nie gegeben – auch wenn Äußerungen vom früheren Bürgermeister Hans Koschnick das nahelegen.
17.09.2023, 07:30 Uhr
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Auf der Spur der Millionenstadt Bremen
Von Frank Hethey

Zu Beginn der 1970er-Jahre kratzte die Stadt Bremen erstmals an der Marke von 600.000 Einwohnern. Und das schien noch längst nicht das Ende der Fahnenstange zu sein, der Senat rechnete mit einem weiteren, starken Bevölkerungswachstum. Dafür wollte man gewappnet sein: Neue Großsiedlungen am Stadtrand sollten die Menschen beherbergen, vierspurige Straßen den Verkehrsinfarkt verhindern. Die damalige Fortschrittseuphorie quittiert man heute gern mit einem müden Lächeln. Ein wenig geringschätzig heißt es, Bremen habe davon geträumt, Millionenstadt zu werden. Doch war das wirklich so? Die Suche nach der Entstehung des populären Schlagworts birgt überraschende Einsichten.

Merkwürdig genug, dass sich in einschlägigen Geschichtsbüchern keine Silbe vom Millionentraum findet. Auch nicht in den umfangreichen Kapiteln zur Stadtentwicklung in den beiden Temmen-Bänden zur Bremer Nachkriegsgeschichte. Bei Nachforschungen im Archiv des WESER-KURIER kommt man ebenfalls nicht weit – offenbar gehörte die Millionenperspektive nicht zum Standardrepertoire der Lokalpolitik. Doch woher dann die so gern kolportierte Meldung vom Millionentraum? Der Tenor: Stadtplaner seien Ende der 1960er-Jahre davon ausgegangen, Bremen werde sich bis zum Jahr 2000 zu einer Millionen-Metropole entwickeln. So nachzulesen in der Kreiszeitung aus Syke.

Bevölkerung der Stadt Bremen wuchs rasant

Dass sich die Stadt in dieser Zeit stark veränderte und große Herausforderungen zu meistern hatte, stellt niemand in Abrede. In den Nachkriegsjahren wuchs die Bremer Bevölkerung rasant an. Knapp 473.000 Menschen lebten 1952 in der Stadt. Binnen 20 Jahren kamen rund 120.000 dazu, ein enormes Plus. Diese Entwicklung schien sich ungebremst fortzusetzen. In den Flächennutzungsplänen von 1957 und 1967 wurde eine Einwohnerzahl von 750.000 als realistisch angesehen. 1971 ging der Senat davon aus, Bremen könne bis zur Jahrhundertwende auf 800.000 Einwohner kommen. Das war aber auch das Maximum, offiziell wurde nie eine höhere Zahl genannt. 

Natürlich könnte das Schlagwort von der Millionenstadt eine spätere Zutat sein. Die Wortschöpfung einer Generation, die es schon besser wusste. Völlig von der Hand zu weisen ist derlei nicht. In der Geschichte gibt es etliche Beispiele von Schlagwörtern, die zwar keine Substanz hatten, aber ein erstaunliches Eigenleben entwickelten. Man denke nur an die Parole "Lewer dod as Slav!", lieber tot als Sklave. Diese Parole wurde den mittelalterlichen Friesen zugeschrieben, sie sollte ihren unbeugsamen Freiheitsgeist veranschaulichen. Entstanden im 19. Jahrhundert, erlebte der Spruch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Durchhalteparole eine Renaissance. Da spielte es keine Rolle, dass sich "Lewer dod as Slav" historisch nicht nachweisen lässt.

Das Ende des Millionen-Traums

Könnte die Mär von der Bremer Millionenstadt ähnlich zustande gekommen sein? Als hämischer Seitenhieb von nachgeborenen Wachstumskritikern, die damit die Fortschrittseuphorie der 1960er- und frühen 1970er-Jahre aufs Korn nehmen wollten? Das klingt plausibel, trifft aber nicht zu. Vielmehr handelt es sich um ein zeitgenössisches Schlagwort. Nachzuweisen ist es in einer Ausgabe des WESER-KURIER vom 16. Januar 1973. Damals erfuhr die Leserschaft, die Hansestadt habe in den 1960er-Jahren noch davon geträumt, "sich bis zum Jahr 2000 zur Millionenstadt zu mausern". Eine Formulierung, die fast identisch ist mit der Angabe in der Kreiszeitung. Doch nun, so hieß es weiter, seien "die Träume von der Millionenkommune an der Weser endgültig ausgeträumt".

Einer, der dieses Schlagwort bis heute gern benutzt, ist Herbert Wulfekuhl. Der 74-Jährige ist mehr als nur irgendein Zeitzeuge. Wulfekuhl war in den frühen 1970er-Jahren ein politisch handelnder Akteur. Als blutjunger Leiter des heutigen Ortsamts Mitte/Östliche Vorstadt bekämpfte Wulfekuhl vor 50 Jahren den geplanten Bau der Mozarttrasse quer durchs Viertel. Noch heute kann sich der spätere Leiter der Landeszentrale für politische Bildung über die „damalige Fortschrittsgläubigkeit“ echauffieren. Als einen der Gründe dafür, dass die Mozarttrasse im Dezember 1973 endgültig von der Tagesordnung verschwand, nennt er aktualisierte Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung. „Damit war klar, aus der Millionenstadt Bremen wird nichts.“ 

Nicht bei 800.000 Einwohnern stehen bleiben 

Wulfekuhl sagt, die Millionenmarke sei im Flächennutzungsplan von 1967 veröffentlicht worden, allerdings stehe die Passage relativ unauffällig im Text. „Darüber gab es damals keine große Aufregung.“ Doch allem Anschein nach spielt ihm die Erinnerung einen Streich. Als ehemaliger Mitarbeiter des Stadtplanungsamts kennt sich Detlef Kniemeyer mit den einschlägigen Unterlagen der Stadtplaner bestens aus. Für den WESER-KURIER hat er einen Blick in den Flächennutzungsplan von 1967 geworfen. Bestätigen kann er die Angabe von Wulfekuhl nicht – im Plan ist definitiv nur von 750.000 Einwohnern die Rede. Aber wie kommt Wulfekuhl auf die Million? Dass es sich um kein reines Hirngespinst handelte, belegt der Artikel im WESER-KURIER vom Januar 1973. Anscheinend war die Annahme, Bremen strebe den Status einer Millionenstadt an, schon damals im Umlauf. 

Den entscheidenden Hinweis auf des Rätsels Lösung liefert der Architekturhistoriker Eberhard Syring. Und wieder spielt dabei die Mozarttrasse eine Rolle. Syring verweist auf einen Argument-Katalog, den der SPD-Ortsverein Altstadt im November 1973 gegen den Bau der Trasse zusammenstellte. Darin kritisieren die Verfasser die Verkehrskonzeption des Senats von 1969. In dieser auch in der Bürgerschaft leidenschaftlich diskutierten Verkehrskonzeption taucht zwar das Schlagwort „Millionenstadt“ nicht auf. Allerdings etwas anderes: nämlich ein Indiz dafür, dass der Senat die eigenen Zahlen für überholt, weil zu niedrig hielt. Man dürfe nicht bei einem „Denkmodell einer Stadt mit 800.000 Einwohnern“ stehen bleiben, erklärte Bürgermeister Hans Koschnick (SPD). Vielmehr sei damit zu rechnen, dass diese Maximalzahl bis zum Jahr 2000 überschritten werde.

Optimistische Prognose erweist sich als Makulatur

Es sieht ganz so aus, als sei diese Äußerung die Geburtsstunde des Millionenstadt-Traums gewesen. Als habe der Senat mit solchen Zahlen versucht, die Mozarttrasse gegen den wachsenden Widerstand der Bevölkerung durchzudrücken. Nicht auszuschließen, dass dabei auch von der Millionenstadt Bremen fabuliert wurde. „Sozusagen als optimistische Fortführung der Prognose von 800.000 Einwohnern“, sagt Syring. Die Aussicht auf eine Millionenstadt Bremen also als Kampfbegriff im politischen Meinungsstreit. Als Totschlagargument gegenüber den Kritikern der Mozarttrasse. 

Freilich erwies sich die Prognose schon bald als Makulatur. Nachdem es die Stadt Bremen 1971 auf einen historischen Höchststand von mehr als 595.000 Einwohnern brachte, waren die Zahlen rückläufig. 1972 wurden nur noch 591.000 Einwohner gezählt, ein Jahr später 586.000. Das war Wasser auf die Mühlen der Trassengegner, der Senat geriet in die Defensive. Genüsslich verwenden die Rebellen von einst bis heute das Schlagwort „Millionenstadt“. Denn je weniger Einwohner die Stadt zählte, desto abstruser wirkte die Millionenfantasie. Nach Angabe des Statistischen Landesamts wurde 1987 mit knapp 533.000 Einwohnern ein neuer Tiefststand erreicht, der nur noch knapp über der Hälfte der Millionenmarke lag.  

Die völlige Fehleinschätzung der Einwohnerentwicklung sollte Spuren hinterlassen. "Das bisherige Vertrauen auf die Vorhersehbarkeit von Entwicklungen war erschüttert", konstatiert Kniemeyer im Temmen-Band zur Bremer Nachkriegsgeschichte. Nach jüngsten Zahlen des Statistischen Landesamts hat die Stadt Bremen derzeit 569.396 Einwohner. Bis 2041 wird nur ein moderater Anstieg auf 578.000 erwartet. Gleichwohl sollte man Prognosen nicht grundsätzlich gering schätzen. In seiner Funktion als Landesplaner für Bremen und Oldenburg sprach der Architekt Wilhelm Wortmann 1942 in einer Vortragsreihe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene über die künftige Bevölkerungsentwicklung der Stadt Bremen. Seine damalige Prognose: Am Ende des Jahrhunderts werde Bremen eine Einwohnerzahl "von etwa 536.000 haben". Damit kam er der Wahrheit ziemlich nahe: Tatsächlich hatte Bremen im Jahr 2000 exakt 539.403 Einwohner. 

Zur Sache

Einwohnerentwicklung in der Stadt Bremen

1550: 15.000

1790: 30.000

1849: 53.478

1867: 74.574

1875: 102.499

1895: 141.133

1905: 214.953

1913: 265.711

1928: 302.949

1935: 331.266

1940: 441.800

1946: 385.266

1952: 472. 962

1955: 508.637

1960: 563.270

1965: 588.605

1971: 595.359

1975: 576.780

1980: 562.420

1987: 532.686

1995: 549.357

2000: 539.403

2005: 546.852

2010: 547.340

2015: 557.464

2020: 566.573

2022: 569.396

Prognose 2041: 578.000

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