Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Besuch bei einem Jäger Die grüne Kanzel

Marcus Henke arbeitet auf einem einzigartigem Hochsitz - und gibt einen Einblick in den Zwiespalt, die den Jäger ausmacht: Die Faszination des Lebens und die Pflicht zur Jagd.
26.09.2016, 00:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Kristina Bellach

Marcus Henke arbeitet auf einem einzigartigem Hochsitz - und gibt einen Einblick in den Zwiespalt, die den Jäger ausmacht: Die Faszination des Lebens und die Pflicht zur Jagd.

„Jetzt ganz langsam nach links schauen“ wispert Jäger Marcus Henke. Da steht es im Abendrot, mitten in den Wiesen des Blocklandes: Ein Reh, sein braunes Fell leuchtet im Schein der untergehenden Sonne. Reglos, mit wachsamen Augen fixiert es den Hochsitz. Nur 50 Meter ist es entfernt, doch es rührt sich nicht. Minute um Minute vergeht; mit dem Fernglas vor den Augen sitzt Henke stumm, wie versteinert. Der kleinste Mucks könnte das Tier vertreiben. Nach einiger Zeit senkt die Ricke den Kopf, um zu äsen. Der Jäger darf sich rühren.

Es ist ein klarer, sonniger Tag. Wenn nicht gerade ein Reh ihn in der Bewegung einfriert, hat Henke es recht gemütlich auf dem Hochsitz, der im Jägerjargon Ansitz oder Kanzel heißt. Von innen ist die Kanzel bis zu den Fenstersimsen vollständig mit Teppich ausgekleidet. An der Wand sind Winkel befestigt. Dort kann der Waidmann einen Holzbalken einhängen. Ein Brett daraufgelegt, fertig ist die Sitzbank. Eine zugeschnittene Isomatte dient als geräuschdämpfende Auflage an den Fensterbrettern. Der Rundumblick erlaubt eine weite Sicht: hin zu den Bauernhöfen und Gärten an der Straße, die das Schilfgebiet der Wümme von den Wiesen und Gräben des Blocklandes trennen. In Richtung Stadt erstrecken sich Wiesen und Gehölze, in denen Bussarde und Waldohreulen nisten, soweit das Auge reicht.

Selbst der Ansitz bietet mit Holunder, Weißdorn, Himbeerstrauch und Hasel Schutz und Futter, ein Gründach zusätzlich vier Quadratmeter Schmetterlingsweide. „Wir haben hier eine Biodiversität, wie man sie normalerweise nicht findet“, erklärt Henke. „Aber das darf nicht täuschen. Es ist eine Kulturlandschaft.“ Ein biologisches Gleichgewicht im eigentlichen Sinne gibt es hier nicht, lediglich die Balance, die sich auf dem vom Menschen geschaffenen Lebensraum eingependelt hat. Um diese zu erhalten, arbeiten Naturschutzorganisationen wie Landesjägerschaft, BUND und NABU Hand in Hand. „Wäre das nicht, wäre es arme Landschaft.“

Ganz nah dran

Die Kanzel macht es möglich, die übliche Perspektive – Wildtier beobachtet Mensch – umzukehren. Geschützt vor ihrem Blick auf ihn, kann er die Tiere unentdeckt aus fünf Metern Höhe beobachten. Diese Nähe, weit unterhalb der Fluchtdistanz der Tiere, wäre sonst kaum erreichbar. Das Reh, das anders als seine Artgenossen im Bürgerpark neugierige Beobachter nicht gewohnt ist, wäre hier auf 300 Metern vor Menschen geflohen.

Nun hält es die Schnauze ins Gras, nur um Sekunden später den Kopf zu heben und mit aufmerksamen Blick die Umgebung zu überwachen. Das Reh sichert, sagt der Fachmann, und zwar ständig, um mögliche Raubtiere so früh wie möglich zu erkennen. Dann geht das Tier ein paar Schritte, zupft hier und da ein wenig Grünes. Anders als Kühe, die mampfend auf der Stelle grasen, sind Rehe Feinschmecker, die gezielt schmackhafte Kräuter suchen. Einige Hasen hoppeln in der untergehenden Sonne im Gras, in der Ferne zieht ein Schwan durch die Gräben. Später, der volle Mond ist aufgegangen, wird das Reh wieder auftauchen, samt seines Kitzes, das nur 20 Meter vor dem Ansitz vorbeispaziert. „Diese Nähe zur Natur ist immer wieder einzigartig. Das ist das Schöne, was zur Jagd gehört.“

Für den 50-Jährigen, der als Sprössling einer Forstfamilie seine halbe Kindheit im Wald verbracht hat, ist der Ansitz ein Ort, sich des Alltags zu entledigen. „Ich kann mit allen Sinnen im Hier und Jetzt sein. Es ist so ein beeindruckendes, klares Gefühl.“ Ein bisschen kehrt der Waidmann hier zum Ursprung zurück und bedient sich der Fähigkeiten, die den Menschen bis in die Gegenwart überleben ließen. Die Gesellschaft mag sich rasant ändern, doch begibt Henke sich in die Natur, lässt er das zurück: „Hier draußen bleibt es, wie es ist.“

An diesem Abend aber erwägt Henke, Füchse zu bejagen. In den letzten Jahrzehnten hat sich ihr Bestand mehr als verdoppelt, sehr zum Nachsehen bedrohter Beutetierarten. Da die Regenmenge dieses Sommers die Mäusepopulation, Hauptnahrung des Fuchses, dezimiert hat, machen sich die Reinekes auch über Eier und Nester bedrohter Wiesenvögel her. „So kommt es zu einem Ungleichgewicht. Wir müssen also die Raubtiere bejagen und auf niedrigem Niveau halten, so dass die Vögel sich weiter vermehren können.“ Die erste Pflicht des Jägers ist es schließlich, einen gesunden, artenreichen Wildbestand zu pflegen und zu erhalten. Allerdings ist es nicht einfach, den Fuchs zu erlegen. Das Märchen vom schlauen Fuchs hat einen wahren Kern. „Füchse haben sehr fein entwickelte Sinne. Und sie sind nachtaktiv“, verdeutlicht Henke das Problem.

Damit der scheue Räuber sich zeigt, muss das Geflüster enden, der Jäger verharren. Um dem Glück auf die Sprünge zu helfen, zückt Henke eine Flöte, mit der er den quäkenden Wehlaut eines verletzten Hasen imitiert. Weißer Nebel hat sich wie ein Schleier über die Feld gelegt, Henke setzt die Pfeife an die Lippen. Ein Schrei, ähnlich dem eines Säuglings, zerreißt die Luft.

Der tiefe Zwiespalt

Henkes Gewehr, eine Repetierbüchse, lehnt am Fenster Richtung Süden. Von Norden, aus dem Schilf der Wümme, kommen die Füchse auf ihren nächtlichen Streifzügen. Wenn alles klappt, könnte bald ein Rotfuchs am Ansitz vorbeiziehen. Doch nichts geschieht. Die Zeit vergeht, Henke imitiert den klagenden Hasen noch zweimal. Ein sachtes Rascheln, ein leises Platschen dringt von Wiese und Graben herüber. Er lauscht gebannt auf Geräusche, die sich von hinten nähern. Dann hält der Jäger inne. „Es ist unglaublich, was ich sehe: zwei Hasen. Einer macht Männchen und guckt hier rüber.“ Statt Füchsen hat er Mümmelmänner angelockt.

Dann passiert es: ein beständiges Rascheln von in gleichmäßigem Tempo geknickten Grashalmen tönt leise von hinten. Jäger sagen, der Fuchs schnürt. Der Begriff trifft zu: Stetig geradeaus, fast wie auf Schienen, trabt ein großer Fuchs über das Nachbarfeld. Der Fuchs verschwindet in den hohen Pflanzen am Graben. Henke wartet, dass das Tier das Gewässer überquert und herüberkommt. Es wäre dann genau vor seiner Flinte. Vielleicht hat Reineke etwas bemerkt. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.

Henke pfeift abermals. Plötzlich dieses stetige Rascheln. Leise, leise kommt es von links: ein schlanker Rücken, runder Kopf, dreieckige Ohren ziehen durch das Gras. Bis auf sechs Meter kommt ein anderer Fuchs an den Ansitz heran. Lautlos bringt der Jäger das Gewehr in Position. Der Fuchs bleibt stehen. Zwei Füchse gleichzeitig zu sehen, einen davon so nah, das sei die absolute Ausnahme, wird Henke später sagen. „Wie ein Sechser im Lotto.“

Dieser Moment wird für den Jäger immer ein tiefer Zwiespalt sein: die Anmut des Tieres, Henkes Faszination für alles Leben einerseits und die Pflicht und der Wille zur Jagd andererseits. Sein Finger liegt am Abzug, sein Auge visiert das Ziel. Der Fuchs dreht um, um davonzutrotten. Ein Schuss hallt durch die Nacht.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Einwilligung und Werberichtlinie

Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die von mir angegebenen Daten dazu genutzt werden, regelmäßig per E-Mail redaktionelle Inhalte des WESER-KURIER seitens der Chefredaktion zu erhalten. Die Daten werden nicht an Dritte weitergegeben. Ich kann diese Einwilligung jederzeit formlos mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, z.B. per E-Mail an widerruf@weser-kurier.de.
Weitere Informationen nach Art. 13 finden Sie unter https://www.weser-kurier.de/datenschutz

Schließen

Das Beste mit WK+

Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)