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Kolumne im WESER-KURIER Ein syrischer Flüchtling über sein Leben in Bremen

Im Jahr 1969 machte der Syrer Farhan Hebbo in der ehemaligen DDR eine Ausbildung zum Mechaniker. Seit 2014 lebt er nun als Flüchtling in Bremen.
31.01.2016, 00:00 Uhr
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Ein syrischer Flüchtling über sein Leben in Bremen
Von Alice Echtermann

Im Jahr 1969 machte der Syrer Farhan Hebbo in der ehemaligen DDR eine Ausbildung zum Mechaniker. Seit 2014 lebt er nun als Flüchtling in Bremen. Ab Montag schreibt er eine Kolumne für den WESER-KURIER.

In Deutschland hat Farhan Hebbo gelernt, wann sein Geburtstag ist. Das war vor über 40 Jahren. Am 1. September 1969 flog er von Beirut nach Berlin-Schönefeld und kam abends bei seiner Gastfamilie an. „Die hatten einen großen Tisch, es gab Essen und Trinken wie bei einer Feier“, erinnert er sich. „Der Dolmetscher stand auf und sagte: Wir gratulieren unserem syrischen Freund, denn heute ist sein Geburtstag. Vorher wusste ich nicht, dass der 1. September mein Geburtstag ist.“

Heute ist Farhan Hebbo 66 Jahre alt – und er ist nach Deutschland zurückgekehrt. Seit einigen Monaten lebt er in Bremen, allerdings aus ganz anderen Gründen als 1969. Damals wurde er gemeinsam mit anderen jungen Männern vom syrischen Verkehrsministerium in die DDR geschickt und machte zwei Jahre eine Ausbildung zum Mechaniker in einem Reichsbahnausbesserungswerk. Bei seiner zweiten Reise nach Deutschland war Farhan Hebbo auf der Flucht.

In zwei Wochen über die Balkanroute

In Syrien tobte bereits seit drei Jahren der Bürgerkrieg, als Hebbo das Land im Mai 2014 verließ. Er stammt aus Qamischli, einer Stadt an der Grenze zur Türkei, die von starken Konflikten zwischen ethnischen und religiösen Gruppen geprägt ist. Kurden, Muslime, Christen, Jesiden: Hebbo engagierte sich in einer Organisation, die für Frieden eintrat und vermitteln wollte. „Wir hatten ein Ziel: Wir wollten keinen Krieg. Kein Töten. Aber der Regierung gefällt das nicht, dem Daesch auch nicht.“ Innerhalb von zwei Monaten landeten drei Mitglieder seiner Organisation im Gefängnis. Farhan Hebbo wurde gewarnt, er sei der nächste. Noch am selben Abend ging er mit seiner Familie in die Türkei.

Von dort reiste Hebbo zunächst allein weiter über die Balkanroute. Zwei Wochen war er unterwegs, von Bulgarien nach Serbien, Ungarn, Österreich und schließlich Deutschland. „Das war das gefährlichste Abenteuer meines Lebens“, erinnert er sich. 23 Leute aus Syrien und dem Irak seien sie gewesen.

Am Tag versteckten sie sich, nachts stolperten sie an einem Seil hintereinander durch den dunklen Wald. Eine fremde junge Frau half ihm, wenn er stürzte, und ermutigte ihn, weiterzugehen. In Ungarn, als die Polizei sie aufgriff, verlor er sie aus den Augen. Während seiner gesamten Flucht trug Farhan Hebbo ein Notizheft bei sich, in dem er seine Gedanken und Erlebnisse aufschrieb. „Ich habe viel geschrieben, aber es ist nie genug“, sagt er. Hebbo ist kein Schriftsteller, er ist auch kein Journalist. Eigentlich sei er ein Bauer, sagt er, er stamme vom Dorf. Doch in Syrien wurde das Schreiben zum einzigen Ventil für seine Gedanken und Gefühle. „Ich denke laut, aber ich muss leise sprechen“, sagt er. „Oder gar nicht sprechen. Nur schreiben, was ich denke.“ Doch selbst das konnte ihn in Gefahr bringen. Seine Frau fürchtete, jemand könnte die Texte finden. Also verbrannte er sie alle, erzählt er, alle Texte aus zwei Jahren.

Hebbos Frau und Sohn sind noch in Istanbul

Farhan Hebbo lebt nun mit seiner erwachsenen Tochter in einer großen Gemeinschaftsunterkunft in Bremen. Ihr Status ist geklärt, sie dürfen bleiben. Oft essen die Bewohner gemeinsam. Einer der Männer ist ein besonders guter Koch – Hebbo spricht von ihm immer nur als „unsere Mutter“. Ihn selbst nennen seine jüngeren Freunde alle „Onkel“. Seine Sprachkenntnisse durch die zwei Jahre in einer deutschen Gastfamilie sind nun sein größter Trumpf. Er unterrichtet und hat jeden Tag Termine, geht mit anderen Bewohnern zum Jobcenter, zum Arzt, überallhin, wo ein Übersetzer gebraucht wird. Es sei seine größte Freude, anderen helfen zu können, sagt Hebbo. Aber eine bezahlte Arbeit würde ihm noch viel mehr nützen. Irgendwann will er seine Frau und seinen jüngsten Sohn zu sich holen, die immer noch in Istanbul sind.

Viele seiner freien Stunden verbringt Farhan Hebbo in der Bibliothek, wo er sich arabische Bücher ausleiht. Er kann nicht verstehen, weshalb viele Menschen die Bibel oder den Koran nicht kennen – er hat beide gelesen. Und viel mehr: „Ich weiß von den Germanen, von Bismarck, Helmut Kohl oder Willy Brandt. Das ist Geschichte, das ist mein Brot. Ich lebe nur, wenn ich lese.“

Nachts könne er oft nicht schlafen, sagt Hebbo. Augen und Ohren könne er verschließen, aber nie seine Gedanken zum Schweigen bringen. Was er erlebt hat und die neuen Sorgen, die Suche nach einer Wohnung in Bremen, die Sehnsucht nach seiner Heimat und seiner Frau – das alles hält ihn wach. Dann lasse er die Gedanken fliegen, sagt er. In seinen Träumen gebe es keine Grenzen, nur einen endlosen Himmel. Farhan Hebbo träumt von einer Welt, in der es keinen Unterschied macht, welche Hautfarbe, Religion oder Nationalität ein Mensch hat. „Wir sind alle Schwestern und Brüder“, sagt er. „Ich achte und akzeptiere sie, ob sie Christen oder Muslime sind – wir sind alle Menschen.“

Der Syrer Farhan Hebbo schreibt ab Montag eine wöchentliche Kolumne für den WESER-KURIER. Obwohl er sehr gut Deutsch spricht, schreibt er nur auf Arabisch. Die Redaktion hilft ihm, seine Texte zu entwickeln und zu übersetzen.

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