Für Marcus Henke gibt es überhaupt keinen Zweifel. In Bremen gehen fast alle gemeldeten und überprüften Risse von Nutztieren auf das Konto des Wolfes. „Wir haben ein klares Täterprofil“, sagt Henke, Vize-Präsident der Landesjägerschaft Bremen, „in den allermeisten Fällen ist der Wolf der Verursacher.“
In anderen Bundesländern ist man sich da nicht so sicher. In Bayern geht laut „Süddeutscher Zeitung“ aus Daten des Landesamtes für Umwelt hervor, dass bei 99 Verdachtsfällen nur sieben Mal tatsächlich ein Wolf als Täter nachgewiesen werden konnte. In acht Fällen sollen dagegen Hunde auf Schafe losgegangen sein. Demnach wären Hunde gefährlicher für Nutztiere als Wölfe.
„Absoluter Quatsch“, sagt der Bremer Jäger Henke zu den Schlussfolgerungen, die man in Bayern aus den Zahlen zieht. „Dort hängt man noch dem Mythos nach, dass der Wolf gar nicht so schlimm sei“, sagt Henke. Für ihn kein Wunder: Erstens seien Wölfe in Bayern erst seit wenigen Jahren wieder heimisch. Zweitens hätten die Naturschutzverbände einen sehr großen Einfluss, „entsprechend verharmlosend wird das Bild des Wolfes in diesen Gegenden gezeichnet“. In Bayern, Hessen oder Baden-Württemberg, so Henke, fehle die nötige Erfahrung im Umgang mit Wölfen.
Tatsächlich liegen die Wolfsregionen Deutschlands im Norden der Republik. Die meisten Rudel leben in Niedersachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zum Vergleich: Im Wolfsmonitoring für Bayern sind für das Monitoringjahr 2020/21 (1. Mai bis 31. April) 13 sesshafte Wölfe dokumentiert. In Niedersachsen leben nach neuesten Zahlen allein 44 Rudel, also mehr als zwei Wölfe in einem abgrenzbaren Territorium. Dazu kommen fünf Einzelwölfe. Das niedersächsische Umweltministerium geht bei seinen Schätzungen von über 350 Wölfen innerhalb der Landesgrenzen aus.
In Niedersachsen ist Raoul Reding als Wolfsbeauftragter der Landesjägerschaft seit sechs Jahren verantwortlich für das Wolfsmonitoring. Auch er hat genau wie Marcus Henke in Bremen keinen Zweifel daran, dass in Niedersachsen Wölfe für die meisten der gemeldeten Risse von Nutztieren verantwortlich sind. Reding hat gerade erst den Bericht für das zweite Quartal 2022 vorgelegt. 78 Übergriffe auf weidende Nutztiere sind für diesen Zeitraum dokumentiert, die meisten davon auf Schafe (45) und Rinder (24). Der deutlich kleinere Teil verteilt sich auf Ziegen (3), Gatterwild (3) und Pferde (3).
In 55 Fällen konnte eindeutig ein Wolf als Angreifer identifiziert und amtlich bestätigt werden, darunter bei allen 13 gemeldeten Angriffen im Landkreis Cuxhaven und bei acht von neun Angriffen im Landkreis Osterholz. Neun Fälle sind noch in der Bearbeitung. 14 Mal war der Angreifer nicht sicher feststellbar, ein Wolf als Verursacher aber auch nicht auszuschließen, wie es heißt.
„Wir haben inzwischen viel Erfahrung mit Wolfsangriffen“, sagt Reding. Über 2000 Nutztierrisse sind in Niedersachsen im Laufe der Jahre begutachtet worden, in zwei von drei Fällen war der Angreifer mit Sicherheit ein Wolf. Dieser Nachweis ist für Weidetierhalter wichtig, damit sie Entschädigungen geltend machen können.
In manchen Fällen lasse sich schon beim bloßen Anblick des Kadavers erkennen, dass ein Wolf am Werk war, heißt es. Die Raubtiere töten ihre Beute meistens mit einem gezielten Biss in die Kehle und öffnen danach die Bauchhöhle oder durchbeißen die Rippenbögen ihrer Opfer. Für absolute Gewissheit sorgen genetische Untersuchungen, wenn Wolfs-DNA am Opfer nachgewiesen wird.
Umgekehrt bedeutet laut Reding Hunde-DNA am Körper eines gerissenen Tieres, aber nicht automatisch, dass ein Hund auch der Täter war. „Man muss mit der Interpretation sehr vorsichtig sein“, sagt Reding. Er schildert ein Beispiel: Ein Kalb wird des Nachts tot auf der Weide geboren. Ein Fuchs öffnet die Totgeburt an der Bauchhöhle, und der Landwirt meldet das Szenario am nächsten Morgen als vermeintlichen Wolfsriss.
Dass trotzdem auch Hunde Weidetiere angreifen, schließt Reding nicht aus. Diese Fälle würden aber nicht zwangsläufig oder zentral erfasst, da sich der geschädigte Weidetierhalter direkt mit dem Hundehalter über eine Entschädigung einigen könnte.
Die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf weist für das Jahr 2020 fast 4000 getötete Nutztiere aus. Für Bremen und das Gemeindegebiet Schwanewede hat die hiesige Landesjägerschaft von Ende Dezember bis Ende Juni 13 Fälle registriert. „Über 100 Tiere sind dabei getötet worden“, sagt Henke. Er nennt die Entwicklung „dramatisch“.