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Emotionale Debatte Nach Wolfsangriff auf Schafherde: Was Schäfer und Naturschützer sagen

Vermutlich ein Wolf hat im Landkreis Osterholz 30 Schafe gerissen. Das befeuert eine ohnehin schon emotionale Diskussion über den Umgang mit Wölfen. Es geht um Rücktritte, Gerichtsprozesse und leidende Schäfer.
13.12.2021, 05:00 Uhr
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Nach Wolfsangriff auf Schafherde: Was Schäfer und Naturschützer sagen
Von Marc Hagedorn

Vor wenigen Tagen ist passiert, was Hermann Kück befürchtet hat. Vermutlich ein Wolf hat 30 Schafe im Landkreis Osterholz gerissen. „Es war abzusehen“, sagt Kück, „es hat sich seit Längerem abgezeichnet.“ Für den Landkreis Osterholz ist er zwar nicht zuständig, aber der Vorfall wühlt ihn trotzdem auf. Fast zehn Jahre lang war Kück als Wolfsberater im benachbarten Landkreis Cuxhaven tätig. Vor gut zwei Wochen hat der 74-Jährige sein Ehrenamt aufgegeben. „Es war der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr verantworten konnte, weiterhin dabei zu sein“, sagt Kück.

Sein Rückzug hat für viel Aufsehen gesorgt. Kück, der in Lunestedt lebt, ist im Cuxland eine Art Institution. Seit 45 Jahren engagiert er sich im Naturschutz, 2015 hat er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz bekommen. Kück hat mehrere Bücher geschrieben und unzählige Vorträge gehalten, in Schulen, Kindergärten, auf Bürgerversammlungen. In den vergangenen Jahren fast immer nur zu einem Thema: den Wolf.

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Kück hat vermittelt und aufgeklärt. Er hat im Buch „Dunkle Wolken über dem Wolfsparadies“ beschrieben, warum Wölfe sind, wie sie sind, wie sie sich im Familienverband organisieren, wie sie miteinander umgehen und wie mit ihrer Umwelt. „Sehr sachlich“, sagt er, habe er stets über das Verhältnis von Mensch und Wolf referiert.

Inzwischen sagt Kück: „Die Realität hat uns überholt. Der Mensch und der Wolf können keine Freunde sein.“ Er hat in den vergangenen Jahren Dutzende tote Schafe gesehen, gerissen von Wölfen, und kürzlich erst zwei Ponys, die von einem Wolf angegriffen worden waren, „schreckliche Bilder“, sagt er.

Zahl der Wolfsrudel ist deutlich gestiegen

Von „Bildern, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt“ spricht auch Rene Krüger. Ihm gehören die Tiere, die am Wochenende zwischen Neuenkirchen und Rade (Gemeinde Schwanewede) gerissen worden sind, er fand sie weit verteilt auf einer großen Fläche. Durch Kehlenbisse getötet, auf der Flucht in Gräben ertrunken oder so schwer verletzt, dass ein Tierarzt sie vor Ort von ihrem Schmerz erlösen musste. Krüger bewirtschaftet mit seiner Herde den Weserdeich. Die Schafe halten die Grasnarbe fest, leisten so einen wichtigen Beitrag zum Deichschutz. Erst vor knapp zwei Wochen, so Krüger, seien in einer anderen Herde von ihm bei Sandstedt vier Tiere getötet worden.

Die Vorfälle ereignen sich zu einem Zeitpunkt, an dem so emotional wie lange nicht mehr über Wölfe diskutiert wird. Das Bundesamt für Naturschutz hat gerade mitgeteilt, dass die Zahl der Rudel in Deutschland bis April für das Monitoringjahr 2020/2021 von 131 auf 157 gestiegen ist. Der Trend gilt auch für Niedersachsen, hier stieg die Zahl von 23 auf 35. In Niedersachsen leben demnach die zweitmeisten Rudel und Paare, nur in Brandenburg sind es mehr. 273 Einzeltiere sind in Niedersachsen sicher nachgewiesen.

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Im Bremer Umland leben und bewegen sich Wölfe vor allem östlich und südlich von Rotenburg bis hinunter Richtung Verden und Dörverden. Vergleichsweise viele Wolfsnachweise zeigt das Monitoring auch im Südkreis von Diepholz zwischen Barnstorf und der Kreisstadt Diepholz. Im Landkreis Oldenburg fallen Gebiete um Wardenburg und Wildeshausen auf, im Ammerland bei Bad Zwischenahn.

Die Zahl der Wolfsübergriffe ist in Niedersachsen über die Jahre angestiegen, von acht im Jahr 2012 auf mehr als 230 im laufenden Jahr. Landvolk-Präsident Holger Hennies begrüßte deshalb vor wenigen Tagen im Interview mit dem WESER-KURIER, dass im neuen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ein regionales Wolfsmanagement vorgesehen ist. „Damit müssen wir in Niedersachsen nicht mit Maßnahmen warten, bis ganz Deutschland mit Wölfen besiedelt ist, sondern können schneller handeln“, sagte Hennies.

Niedersächsischer Staatsgerichtshof verhandelt Klage

Wie sensibel – auch politisch – Eingriffe in den Wolfsbestand sind, merkt gerade die Landesregierung wieder einmal. Der Niedersächsische Staatsgerichtshof, das Verfassungsgericht des Bundeslandes, verhandelt zurzeit über eine Klage von mehreren Grünen-Politikern, die der Regierung vorwerfen, nicht ausreichend über Abschussgenehmigungen zu informieren. Die Kläger sprechen von „heimlichen Abschüssen“.

Umweltstaatssekretär Frank Dodds, der bei dem Prozess für die Landesregierung vor Gericht aussagte, schilderte, mit welchen Mitteln Gegner von Wolfsabschüssen operierten. „Zuletzt wurden Waldwege mit Schrauben präpariert oder Radmuttern an Autos gelöst, um Unfälle zu provozieren und Personen einzuschüchtern“, sagte Dodds.

Emotionales Thema

Wolfsexperte Kück weiß nur zu genau, wie emotional die Menschen beim Thema Wolf werden können. Er erinnert sich gut daran, wie die Stimmung im Cuxland vor fünf Jahren war, als ein Wolfsrudel auftauchte, „regelrechte Panik“ habe geherrscht, sagt Kück. Ein Muttertier war damals illegal erschossen worden, der verbliebene Rüde und die sieben Welpen aus dem zweiten Wurf hätten daraufhin angefangen, Nutztiere in großer Zahl zu reißen. „Kindergärten sollten damals geschlossen werden“, sagt Kück, aus Sorge, ein Wolf könne die Kinder attackieren.

Kück will keine Angst machen oder Panik schüren. Aber, sagt er, es gefalle ihm überhaupt nicht mehr, wie der Landkreis Cuxhaven jetzt mit dem Wolfsthema umgehe. Vor wenigen Wochen erst hätten Jäger rund um den Bülter See 15 Wölfe gesichtet. Laut Kück habe der Landkreis die Situation heruntergespielt. Kück spricht von einer „Verharmlosung der aktuellen Entwicklung“. Deshalb hat er vor wenigen Wochen als Wolfsberater aufgehört. Kück sagt: „Ich kann das nicht mehr vertreten. Ich kann mich nicht mehr unbefangen für den Wolf einsetzen und den Kindern die Geschichte vom harmlosen Wolf erzählen.“

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Auch die Tierhalter zu beraten, sei schwierig geworden. Jahrelang habe er Wolfszäune für ein probates Mittel gehalten. „Aber was sehen wir jetzt?“, fragt Kück, „ob 90 Zentimeter hoch, 1,20 Meter oder 1,50 Meter – den Wölfen gelingt es, die Zäune trotzdem zu überwinden.“ Wie solle er den Tierhaltern jetzt noch guten Gewissens Zäune empfehlen?

So wie bisher, das ist seine Meinung, könne mit dem Thema Wolf nicht länger umgegangen werden. „Es braucht neue Antworten aus der Politik“, so Kück. Eine Überarbeitung des Jagdrechts etwa und, vor allem, realistische Analysen. Das alles aber ohne ihn als Wolfsberater.

Zur Sache

Im Märchen sind die Rollen klar verteilt. Der Wolf ist böse. Er gilt als verschlagen, hinterlistig, gemein und brutal. Marcus Henke wählt dagegen eine ganz sachliche Beschreibung. „Der Wolf ist ein Wildtier“, sagt der Vizepräsident der Landesjägerschaft Bremen. Gefährlich für andere Wildtiere und zunehmend auch für Nutztiere. Und für den Menschen? „Sagen wir es so: Der Wolf ist nicht ungefährlich, aber es geht von ihm für den Menschen erst einmal keine direkte Gefahr aus.“

Normalerweise meide der Wolf den Menschen und ziehe sich zurück, so Henke. Es seien eher die Umstände, die zu Angriffen führen könnten. „Etwa wenn ein Kind wegläuft und dabei stürzt“, sagt Henke, „dann könnte beim Wolf der Beutereflex einsetzen.“ Das sei bisher in der Region aber noch nicht nachweisbar passiert.

Tatsächlich sind laut einer Untersuchung des Norwegischen Instituts für Naturforschung zwischen 2002 und 2020 weltweit 491 Angriffe von Wölfen auf Menschen dokumentiert, dabei kamen 26 Menschen ums Leben, niemand davon in Europa. Schwerpunkte der Konflikte sind laut der Studie Iran, Türkei und Indien. Die Gründe für die Attacken sind Tollwut und die Anfütterung von Wölfen.

Genau davor warnt auch Henke. „Sobald wir Nähe zulassen, erhöht sich das Risiko“, sagt der Jäger, „wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass der Wolf unter uns lebt, und alles geht gut.“ Es dürfe keinen Gewöhnungseffekt geben, beispielsweise indem Wölfe verlässlich Nahrung in der Umgebung des Menschen fänden. Dazu zählen auch Schafherden oder andere Nutztiere.

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