Herr Gerl, in Bremen ist Jugendkriminalität derzeit ein viel diskutiertes Thema. Auslöser sind mehrere Straftaten, insbesondere eine Attacke auf eine Transfrau in einer Straßenbahn. Bemerken Sie als Jugendrichter einen Anstieg der Jugendkriminalität?
Dierk Gerl: Nein. Wir haben in den letzten Jahren durchgehend sinkende Zahlen, die Jugendkriminalität nimmt eindeutig ab.
Gilt das auch für die sogenannte Hasskriminalität?
Auch da haben wir nicht die großen Zahlen bei der Jugendkriminalität. Ich kann nicht erkennen, dass da ein großes Problem besteht. Nach meinem – natürlich subjektiven – Eindruck sind die Jugendlichen heute in der Breite sogar viel aufgeklärter und lockerer im Umgang mit der Vielfältigkeit der Menschen, als das in anderen Generationen der Fall war. Natürlich gibt es hier aber bestimmte Problembereiche.

Dierk Gerl, Jugendrichter am Amtsgericht Bremen
Welche?
Die Polizei hat in Bremen derzeit ein massives Problem mit gehäuften Raubtaten. Das ist aber eine Sonderproblematik, die eine besondere Gruppe von Jugendlichen betrifft. Es geht dabei um unbegleitete minderjährige Ausländer. Daraus aber ein Problem für die ganzen Jugendlichen und Kindern dieser Generation zu machen, finde ich nicht gerechtfertigt.
Sie sagen, die heutige Jugend geht lockerer mit Vielfalt um. Gilt das für alle? Die Verdächtigen im Fall der Attacke auf eine Transfrau hatten einen arabischen Familienhintergrund. Liegt hier das Problem?
Ich sag’s mal so: Wenn sie versuchen würden, eine Veranstaltung wie den Christopher-Street-Day in bestimmten anderen Gegenden dieser Welt durchzuführen, dann hätten sie damit wahrscheinlich ein großes Problem. Weil in diesen Ländern andere Sitten, Gebräuche und religiöse Befindlichkeiten herrschen. Und wenn wir Menschen aus diesen Ländern hier bei uns haben, die so kulturell und religiös geprägt sind, dann ist es eigentlich selbstverständlich, dass die anders mit diesen Fragestellungen umgehen. Dass die nicht, kaum dass sie hier sind, ihre Ansichten ändern. Dass wir hier so eine offene, tolerante Gesellschaft sind, ist ja auch nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich über Jahrzehnte entwickelt.
Klingt ein wenig wie eine Entschuldigung. Ich darf aber doch erwarten, dass niemand jemanden ins Krankenhaus schlägt, nur weil er mit dessen Art zu leben, kulturelle oder religiöse Probleme hat.
Da haben Sie mich missverstanden. Ich will das nicht entschuldigen. Aber wenn ich als Jugendrichter einen solchen Jugendlichen vor mir habe, muss ich mir doch erklären, wie es dazu kommen konnte. Natürlich erwarte ich, dass jemand, wenn er in dieser Gesellschaft lebt, sich nach unseren Werten und Normen verhält. Und in so einem Fall wie in der Straßenbahn muss man natürlich konsequent dagegenhalten. Das tun wir als Jugendrichter aber auch. Doch um den Problemen bei den Jugendlichen begegnen zu können, um mit ihnen arbeiten zu können, muss ich mir als Richter Gedanken darüber machen, wo das Problem liegt und woher es kommt. Was aber nicht heißt, dass man so ein Verhalten durchgehen lässt. Noch einmal: Wer dauerhaft in unserer Gesellschaft ankommen und hier leben will, muss sich an unsere Gesetze halten. Ohne Ausnahme
Das Jugendstrafrecht hat aber andere Ziele als das Erwachsenenstrafrecht.
Richtig, im Jugendstrafrecht geht es nicht um Strafen. Es gilt der Erziehungsgedanke. Alles, was wir hier machen, ist darauf ausgerichtet, mit pädagogischen Mitteln zu erreichen, dass der Jugendliche nicht mehr straffällig wird. Gerade wenn es um erheblichere Straftaten geht, ist es natürlich für viele schwer nachvollziehbar, dass man versucht, mit erzieherischen Maßnahmen auf Jugendliche oder Heranwachsende einzuwirken.
Der mutmaßliche Haupttäter bei dem Angriff auf die Transfrau ist erst 13. Er ist also noch nicht strafmündig. Haben Sie Verständnis dafür, dass Menschen mit Unverständnis darauf reagieren, wenn es heißt, er ist zu jung, um bestraft zu werden?
Vorweg: Zu sagen, die Staatsanwaltschaft stellt in solchen Fällen das Ermittlungsverfahren ein und es passiert nichts, stimmt nicht. Das Jugendamt hat mithilfe des Familiengerichts durchaus Möglichkeiten, auf Jugendliche einzuwirken. Und zwar fast mit den gleichen Mitteln, wie wir das im Jugendstrafrecht tun. Aber eigentlich geht es bei Ihrer Frage ja darum, ob die Grenze zur Strafmündigkeit nach unten gezogen werden soll. Diese Frage taucht sozusagen reflexhaft immer wieder auf, wenn eine Tat passiert ist, die für Schlagzeilen sorgt.
Und wie lautet Ihre Antwort?
In Fachkreisen ist überwiegend klar, dass es keinen Sinn macht, die Grenze zur Strafmündigkeit zu senken. Dafür sind die Voraussetzungen einfach nicht gegeben. Bei unter 14-Jährigen kann man eben nicht davon ausgehen, dass die Einsichtsfähigkeit und vor allem die Steuerungsfähigkeit schon so ausgeprägt sind, dass man von einer Strafmündigkeit ausgehen kann.
Weil ein so junger Mensch noch nicht in der Lage ist, dass Unrecht seiner Tat als solches zu erkennen?
Er muss nicht nur das Unrecht seiner Tat erkennen können, sondern er muss auch noch nach diesen Einsichten handeln können. Und hier wird es dann schwierig. Weil in diesem Alter und eigentlich auch noch danach, die Fähigkeit, mit seinen Emotionen so umzugehen und sie so zu steuern, dass man so handelt, wie es sein sollte, noch in der Entwicklung ist.
Wegen welcher Delikte stehen Jugendliche und Heranwachsende in Ihrem Gerichtssaal?
Diebstahl, Betrug und Körperverletzung sind die Spitzenreiter. Raub ist aber auch dabei.
Haben Sie denn das Gefühl, diese Jugendlichen zu erreichen? Wenn man sich mit Polizisten unterhält, erzählen die von ziemlich abgebrühten Tätern, selbst in sehr jungem Alter.
Natürlich, die gibt es. Aber das sind Ausnahmefälle. Die breite Masse unserer Angeklagten ist im Gespräch durchaus zu erreichen. Wenn wir dann auch noch mit erzieherischen Maßnahmen auf sie einwirken, kommen die allermeisten nicht wieder.
Wie habe ich mir so ein Gespräch vorzustellen?
Man bearbeitet das, was passiert ist und warum das nicht in Ordnung ist. Und zeigt ihnen auf, wie sie ihren Weg auf die eine oder andere Weise weitergehen können. Das reicht bei den meisten völlig aus. Man muss sich immer wieder klar machen, dass wir es mit Jugendlichen und Heranwachsenden zu tun haben. Und die treten nun einmal daneben, die machen mal Fehler. Das gehört irgendwie zum Spiel des Lebens dazu.
Trotzdem werden oft Strafen gefordert, statt Gespräche und pädagogische Maßnahmen.
Natürlich, die Meinung, dass man auch in diesem Alter strafen muss, ist noch weit verbreitet. Und sicher gibt es einen Kern von Jugendlichen, da kommt man früher oder später auch an einschneidenden Maßnahmen wie Arrest oder Jugendstrafe nicht vorbei. Aber Rückfallstatistiken zeigen, dass man mit erzieherischen Maßnahmen eigentlich eine ganze Menge erreicht. Auch wenn das Gerechtigkeitsempfinden oft ein anderes ist – zu denken, mit Strafen macht man alles besser, ist ein Irrglaube.