Zu wenig Personal für zu viele Bewohner, kaum Fachpersonal, überforderte Mitarbeiter, sich stapelnde Akten im Dienstzimmer der Pflegekräfte. Die Zustände im Pflegeheim in Bremen-Mitte, in dem ein Pflegehelfer im März zwei Frauen mit Insulin vergiftet haben soll, hat ein Zeuge nun vor Gericht beschrieben. „Das war ein Durcheinander“, fasst er seinen Eindruck zusammen.
Der Mann war kurzzeitig Kollege des Angeklagten und nun der erste Zeuge im Prozess gegen den 39 Jahre alten Bremer Pflegehelfer. Der muss sich seit Oktober vor dem Landgericht Bremen verantworten, weil er einer 75 Jahre alten Bewohnerin und einer weiteren Seniorin ohne medizinischen Grund Insulin gespritzt haben soll. Eine der Frauen schwebte anschließend in Lebensgefahr.
Bei einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Der Angeklagte, der bei einer Vernehmung bei der Polizei die Tat an der 75-Jährigen noch gestanden hatte, äußerte sich auch am Mittwoch, dem zweiten Prozesstag, nicht zu den Vorwürfen. Um wie viele weitere Fälle es am Ende gehen könnte, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in drei weiteren Fällen, Details dazu wurden am Mittwoch nicht bekannt.
Dafür jedoch über die Zustände in dem Pflegeheim an jenem 30. März 2019, an dem der Angeklagte und der Zeuge gemeinsam Frühdienst hatten. Der Zeuge ist examinierter Krankenpfleger und zusätzlich Rettungssanitäter. Er war über eine Zeitarbeitsfirma im Heim beschäftigt, ebenso wie der Angeklagte, und arbeitete an dem Sonnabend erstmals in der Einrichtung.
Der 28-Jährige sagt, er sei damals der einzige ausgebildete Pfleger auf zwei Etagen gewesen. Und das, obwohl er weder die Abläufe noch die Bewohner kannte. Er habe nicht einmal einen Generalschlüssel für die Zimmer erhalten und habe immer bei Kollegen danach fragen müssen. Er kritisiert, dass er keinen Ablaufplan gekriegt habe, nur eine Liste mit den Bewohnern, die Medikamente oder Insulin bekommen. Irgendwas Schriftliches zur Einarbeitung? „Nein, nichts.“
Seine Aufgabe war die Ausgabe von Medikamenten und Insulin sowie die Wundversorgung bei Bewohnern dieser beiden Etagen. Zusätzlich habe er sich auch noch um die normale Pflege – waschen, anziehen – von fünf Bewohnern kümmern sollen. Bis zum Frühstück um acht Uhr sollte dies geschehen sein. Das habe er zeitlich nicht geschafft. „Mindestens zwei Leute konnte ich erst nach dem Frühstück versorgen“, sagt der junge Mann.
Die anderen Kollegen und den Angeklagten habe er erst an dem Tag kennengelernt. Er sei, anders als andere Helfer in solchen Situationen, selbst dann ruhig geblieben, als er gegen zehn Uhr berichtete, dass es einer Frau nicht gut gehe, sie einen niedrigen Blutzuckerwert habe.
Beide eilten in das Zimmer der Frau. Dort fanden sie die Dame, bettlägerig und dement, blass, nicht in der Lage, auf Ansprache zu reagieren. Der Angeklagte habe nochmals den Blutzuckerwert kontrolliert. Der sehr niedrige Wert von 35 habe sich noch verschlechtert. Normal sei ein Wert von 80. Er und der Angeklagte hätten sofort beschlossen, den Notarzt zu rufen.
Bericht eines Zeugen
Auf die Frage des Richters, ob sich der Pflegehelfer in den Vordergrund gespielt habe, sagt der Zeuge: „Ja.“ Allerdings habe er das damals so gedeutet, dass der Helfer sich in dem Haus besser auskannte als er. Zudem habe der Angeklagte behauptet, Rettungssanitäter zu sein. Deshalb habe er auch nichts dagegen gehabt, dass der Helfer den Anruf beim Notarzt übernahm und später den Vorfall in den Computer eintrug – zumal er, die Fachkraft, nicht einmal Zugangsdaten für den PC erhalten habe. Einen Tag nach diesem Vorfall, berichtet der Zeuge, sei einem Mitarbeiter aufgefallen, dass Insulin fehlte. Am Sonntag seien angebrochene Insulin-Packungen im Medizinschrank eingeschlossen worden. In vielen Heimen sei der Kühlschrank mit Insulin frei zugänglich.