Frau Meregaglia, acht Jahre lang haben Sie den Opernchor des Theaters Bremen geleitet. Zur kommenden Saison wechseln Sie nun als Chordirektorin mit Dirigierverpflichtung ans Staatstheater Darmstadt. An welche Bremer Produktion denken Sie besonders gern zurück?
Alice Meregaglia: Da gibt es mehrere. Zum einen die beiden Opern, die ich selbst dirigieren durfte: "L'elisir d'amore" (Der Liebestrank) von Gaetano Donizetti und "L'italiana in Algeri" (Die Italienerin in Algier) von Gioachino Rossini. Aber schön waren auch "L'Étoile" von chabrier, "Lady Macbeth von Mzensk" von Schostakowitsch, "Alcina" von Händel und die reinen Chorkonzerte. Mit Rossinis "Petite Messe solenelle" haben wir in verschiedenen Bremer Kirchen gastiert, in dem Projekt "Chor unterwegs". Sonst kommt das Publikum immer ins Theater, da dachten wir uns: Gehen wir doch mal in die Stadt zum Publikum. Auch das Requiem von Gabriel Fauré haben wir aufgeführt, in der Urfassung ohne erste Geigen und ohne Bläser. In Frankreich wurde ich dazu inspiriert.
Auch an der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven hat Ihr Chor mitgewirkt, einem wahnsinnig anstrengenden Stück...
Die Neunte haben wir sogar zweimal gesungen. Ganz am Anfang unter Markus Poschner. Und jetzt in meiner letzten Saison unter John Nelson. Sie bildet quasi den Rahmen für meine Tätigkeit hier. Und Sie haben recht, es ist sehr schwer. Meine Soprane haben immer gesagt: Man merkt, dass Beethoven taub war. Aber meine Chorsänger habe die Schwierigkeiten überwunden und eine besondere Schönheit im Gesang erreicht, finde ich.
Wie motivieren Sie Ihren Chor zu Höhenflügen an der Stimmband-Schmerzgrenze?
Eine präzise Antwort habe ich nicht. Ich motiviere wie ein Zen-Meister alle Sänger zu Aufmerksamkeit und Vertrauen, ich schaffe eine menschliche Verbindung, ein Bewusstsein dafür, dass wir offen und nicht allein sind. Das löst viele Schwierigkeiten. Jeder findet seinen Platz, und ich kann sehr spezifisch in die Tiefe der musikalischen Aspekte gehen. Ich habe meine eigene Art und Weise, Themen wie Intonation und Homogenität anzugehen. Ich sage nicht oft: Der Ton ist zu hoch, der Ton ist zu tief. Mir ist es wichtig, die Rolle eines Tons in der Harmonie, in der Struktur und im Ausdruck zu verstehen und das weiterzugeben. Alles andere wäre herumdoktern an Symptomen. Das ist eine Recherche, die wir alle zusammen machen mit viel Vertrauen, Offenheit und Aufmerksamkeit. Das Ergebnis erlebe ich als eine tägliche Heilung für meine Seele.
Sie verstehen sich also nicht als Zuchtmeisterin, sondern als Motivatorin?
Ich bin bei meinen Sängern nie richtig wütend geworden. Dass man mal unterschiedliche Meinungen hat, gehört dazu, aber wir waren immer konstruktiv miteinander. Der Opernchor Bremen ist kein Chor, das ist ein Schatz. Er ist der Grund, warum ich hier acht Jahre geblieben bin. Es war meine erste Chorliebe, es hat gefunkt.
Warum verlassen Sie Bremen dann?
Ich bin jung und alt genug, um etwas Neues auszuprobieren. Es fällt mir oft sehr schwer, loszulassen, und ich denke, dass ich das üben sollte. Vor allem ist mir die Möglichkeit, häufiger ein Orchester zu dirigieren, im Moment wichtig. Die Orchesterleitung bereichert mich als Chordirektorin, Musikerin und Mensch. Ich werde im November zum Beispiel für ein Operettenprogramm in Nizza und 2024 mit einer zeitgenössischen Oper in Bratislava gastieren. Da ich in Frankreich studiert habe und vor meiner Zeit in Bremen am Opernstudio in Colmar beschäftigt war, ist die französische Musik tief in mir verwurzelt. Die Sprache liebe ich sogar noch mehr als die deutsche.
Zieht es Sie nicht nach Italien?
Nein, in Italien wird man nur für eine bestimmte Rolle engagiert. Ich aber schätze die Vielseitigkeit. In Bremen habe ich als Korrepetitorin die Partien mit den Solosängern einstudiert, habe als Studienleiterin, alle Einstudierungen koordiniert, ich war Chordirektorin und Kapellmeisterin. Ich liebe meinen Chor, möchte aber auch die Möglichkeit haben zu dirigieren.
Was möchten Sie denn gerne mal aufführen?
Gioachino Rossini ist mein Lieblingskomponist. Ich habe viele seiner Farcen dirigiert: "L'occasione fa il ladro" (Gelegenheit macht Diebe), "La scala di seta" (Die seidene Leiter), "La cambiale di matrimonio" (Der Heiratswechsel). In Bremen konnte ich den "Barbier von Sevilla" vorbereiten, das war das reine Glück. Ich bin ein Belcanto-Fetischist, Donizetti, Bellini, Verdi. Mich beschäftigen italienische und französische Opern, die würde ich gern ein bisschen mehr dirigieren – da habe ich etwas mitzuteilen. Ich würde auch keinen eigenen Kammerchor gründen, ich habe andere Prioritäten. Ich brauche die Oper, um glücklich zu sein.
Singen Sie selbst auch?
Nein, damit verschone ich euch besser. Wenn man täglich mit Profi-Sängern arbeitet und das Niveau hoch ist, muss man technisch kein Vorbild sein. Wenn ich eine Empfehlung gebe, kann das jeder Chorsänger für sich selbst umsetzen. Ich bin wie der Trainer einer Sportmannschaft, der muss auch nicht besser sein als seine Spieler. Der Coach von Roger Federer muss die Taktik vorgeben, aber nicht besser spielen als Federer.
Am 29. Juni geben Sie Ihr Abschiedskonzert. Welches Programm haben Sie vorgesehen?
Es ist ein Streifzug durch meine acht Jahre hier, mit Solo- und Chorszenen aus Opern, die unseren Geschmack treffen und den des Publikums: "Il trovatore", "Nabucco", "L'elisir d'amore", "L'Étoile". Ich werde dirigieren und auch Klavier spielen. Von Rossini muss unbedingt etwas dabei sein, aus "L'italiana in Algeri". Astor Piazzollas "Maria de Buenos Aires" darf nicht fehlen, das war mein erstes Stück hier. Und es gibt ein Häppchen "Macbeth" als Ausblick auf die kommende Saison.
Waren Sie in Bremen auch außerhalb des Theaters aktiv?
Ich hatte nicht so viel freie Zeit, aber ich habe Tischtennis bei Werder Bremen gespielt. In Italien war ich früher sogar in der Bundesliga. Tischtennis hat Technik und Eleganz, ich habe von diesem Sport viel über Musik gelernt, denn Tischtennis braucht Entspanntheit, Rhythmus und Timing. Viel mehr mache ich aber Zen-Meditation im Zen-Kreis im Viertel, das bereichert meine spirituelle Seite. Und ein Fernstudium in Philosophie.
Was bleibt Ihnen von Bremen sonst noch unvergesslich?
Ich liebe den Rhododendronpark und den Botanischen Garten. Eine meiner Lieblingsecken war immer das Teestübchen im Schnoor. Unvergesslich bleiben aber alle meine Sänger, meine Freundinnen und Freunde, meine Nachbarin, "deutsche Mutter" genannt, und meine Studenten an der Hochschule der Künste hier in Bremen.
Das Gespräch führte Sebastian Loskant.