"Ich komme noch zu spät" hetzte sich schon das eilige Kaninchen mit der Westentaschenuhr in "Alice im Wunderland", und Jonas Luksch fühlte sich beim Thema Zeit sofort an Michael Endes Kinderbuch "Momo", erinnert, in dem ein Mädchen gegen die Zeitdiebe antritt. Der Bremer Künstler hat die Heldin mit der hilfreichen Schildkröte Kassiopeia in goldgepunkteter Gustav-Klimt-Manier festgehalten – nur einer von vielen Hinguckern in der Ausstellung "Keine Zeit". Ein Titel, der ins Mark der hektischen Moderne trifft.
34 Künstlerinnen und Künstler des Blaumeier-Ateliers, des inklusiven Projekts, das seit 1986 kreative Menschen mit und ohne Handicap zusammenführt, haben sich zweieinhalb Jahre mit Zeitempfinden und Zeitverläufen, Freizeit und Zeitgeist beschäftigt. Gezeigt werden die Ergebnisse in der Städtischen Galerie.
Der Eingang: "Die Idee der Entschleunigung steht am Anfang", bemerkt Galerieleiter Ingmar Lähnemann: Der Eingang zur Ausstellung befindet sich wieder einmal auf der Hinterseite am Deich. "Jeder Spaziergänger am Werdersee kann hereinschauen." Der dürfte erst mal irritiert sein. Statt in einen Saal voller Bilder läuft er in einen nüchternen Warteraum. Ein paar unbequeme Stühle, eine müde Zimmerpflanze, ein Tisch mit (Blaumeier-)Zeitschrift: Da heißt es innehalten und sich orientieren. Dann entdeckt man die Echtzeit-Uhr mit der Signatur Carl F. und den kleinen Spiegel, auf den henk – etliche Teilnehmer treten unter Künstlernamen an – das Wort "NOW" (Jetzt) gepinselt hat.
Der Besucher ist angehalten, jeden Moment achtsam zu bleiben und biegt um die Ecke, beginnt in den zwei Obergeschosssälen eine Reise durch alle möglichen Zeit-Zonen. Stefanie Rasch etwa hat sich einen üppigen Merkzettel skizziert, um sich über ihre Zeiteinteilung klar zu werden: Schlaf, Hygiene, Einkauf, Kontaktpflege – als wollten Michael Endes graue Herren nachrechnen. Gegenüber zeigt Brigitte Eickmeier auf drei pastosen Ölgemälden im Edward-Hopper-Stil Frauen, die bei der Kinderbetreuung oder beim Friseur am Handy hängen. Zeitvertreib oder Zeitfresser, das ist hier die Frage.
Das Zeitgefühl: "Zeit ist das, was messbar ist", an diese physikalische Definition erinnert Ingmar Lähnemann und verweist auf Darstellungen unterschiedlichster Zeit-Räume. Die Viererserie von Cornelia Koch, die – inspiriert von einem Planetariumsbesuch – den kosmischen Urknall ebenso intensiv nachempfindet wie eine Strandparty und dabei exakt festhält, von wann bis wann die Bilder entstanden sind. Oder die weißen Papierblätter, die henk vor den Staffeleien seiner Mitstreiter ausgelegt hat: Auf ihnen haben sich als "Zeitreisen" die Fuß-, Staub- und Malspuren von genau einer Woche emsiger Arbeit niedergeschlagen.
Erst recht ein Blickfang ist das Bilder-Quartett, auf dem Leslie Schuy ihre Füße beim Gehen zeigt. Die vier Quadrate bilden wie Fußwegplatten einen Laufsteg. Und geradezu erschlagen steht der Betrachter vor der Wand mit fünf mal drei farbexplosiven Gemäldetafeln, auf denen Tobias Strubelt dem großen Saxofonisten Sonny Rollins huldigt. "Auch wenn es Tonträger gibt, ist Musik die flüchtigste aller Künste", daran erinnert der Galeriechef. "Und die Zeiteinteilung durch Takt und Rhythmus ist die Seele der Musik."
Zeitgeist: Noch einmal henk, ein eher zurückhaltendes, monochromes Großformat von ihm birgt eine ernste Mahnung. "Wir waren neun Tage bei einem Workshop in Thüringen und entsetzt, wie viele Neonazis ihre Embleme offen zur Schau tragen", erzählt er. Er habe sich da an Volker Schlöndorffs Filmdrama "Der neunte Tag" von 2004 erinnert, in dem einem Priester im KZ Dachau die Freiheit winkt, wenn er in neun Tagen seinen Bischof zur Kooperation mit den Nazis bewegt. Kehrt er nicht zurück, werden seine Mitgefangenen erschossen. Aus henks Bild, das er mit gemalten Klebestreifen umrahmt und mit neun Tagesstrichen wie aus einer Gefängniszelle versieht, lassen sich die Streifen der Häftlingskluft ebenso herauslesen wie Stacheldraht und Lagerstruktur.
Treiben lassen: Nicht auf die Uhr schauen, nicht in dieser Ausstellung. Man kann sich einfach treiben lassen durch die mitunter ganz naive Freizeitfarbigkeit, durch Familienbilder, die mehrere Generationen vereinen, durch Stillleben wie die Zitronen von Carl F., die an barocke Vanitas-(Vergänglichkeits-)Darstellungen erinnern, durch allerlei Tierisches. Ein stattlicher Abreißkalender enthält Texte aus der Blaumeier-Schreibwerkstatt, für jeden Ausstellungstag einen. Am ersten Tag liest man den coolen Satz: "Ich habe keine Zeit in meinem Portemonnaie."
Mehrfach mahnen Schildkröten zur Langsamkeit. In einer hübschen Keramik-Sammlung erinnert daneben ein blaues Nilpferd wie aus dem alten Ägypten daran, dass diese behäbigen Tiere bis zu 40 Stundenkilometer schnell laufen können. Ein gebrauchter Teebeutel erhält sogar einen eigenen Sockel. Drei Minuten, fünf Minuten oder zweiter Aufguss? Die Zeit ist ein sonderbar’ Ding.
Am Ausgang im Erdgeschoss wartet ein weiteres Sammelsurium, eine mehrstöckige Bilderwand. Am Rande kleben ein paar riesige Karamellbonbons. "Hoffentlich nimmt die keiner mit"; witzelt Lähnemann. Denn wer Werthers Unechte wie diese lutschen will, braucht verdammt viel Zeit.