Joseph Haydn, ein "Shakespeare der Musik"? Da sich mancher Besucher der Glocke über den Konzerttitel auf den Eintrittskarten wunderte, sei das Rätsel schnell gelöst. 1785 erschien im Londoner "Gazetter & New Daily Advertiser" ein kurioser Artikel, in dem es hieß: "Dieser wunderbare Mann, ein Shakespeare der Musik und Triumph unseres Zeitalters, ist verurteilt, am Hofe eines miesen deutschen Fürsten zu leben."
Dort sei der Komponist eingekerkert und zum Frömmlertum verurteilt, weshalb man ihn befreien und kreuzzugartig nach Großbritannien holen müsse. Der anonyme Aufruf, das gilt als sicher, stammte vom Konzertunternehmer Johann Peter Salomon und sollte den Boden für einen Auftritt Haydns in London bereiten.
Ein Werbecoup, der gelang: 1791 reiste Haydn zum ersten, 1794 zum zweiten Mal an die Themse, zwei mal sechs "Londoner Sinfonien" (Nr. 93 bis 104) erinnern bis heute daran. Gleich drei davon, zwei aus der frühen, eine aus der späten Serie, setzte die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi jetzt im Rahmen ihres Haydn-Projekts aufs Programm. Wobei man den Shakespeare-Vergleich wohl doch als unpassend empfinden mochte: Die eingeschobene, hochdramatisch gespielte Ouvertüre zu Mozarts "Don Giovanni" (mit dem allzu pausbäckigen Konzertschluss), machte deutlich, dass Haydn die Dimension des Dämonischen fehlt.
Dafür wurden seine vielen anderen Qualitäten deutlich. Und Paavo Järvi ist der Richtige, sie alle zu entdecken. Sein federndes Dirigat machte ebenso Freude wie die Wendigkeit der Kammerphilharmoniker. Vor allem aber band Järvi viele hübsche Einzelheiten in eine erzählerische Linie.
Gleich in der kompakten c-Moll-Sinfonie Nr. 95 – der einzigen im Dutzend in Moll und ohne langsame Einleitung – wurde deutlich, wie Haydn mit Feinheiten die Ohren kitzelt. Jede Wiederholung selbst kurzer Motive variierte Järvi leicht, den Umschwung nach Dur gestaltete er als Aha-Effekt, selbst Pausen hatten hier etwas sagen. Und natürlich kam der Witz nicht zu kurz: Aus dem zwischen "ganz hoch" und "ganz tief" hüpfenden Solo im Menuett machte Cellist Tristan Cornut ein Kabinettstückchen.
In der C-Dur-Sinfonie Nr. 97 mit ihrem fast biederen festlichen Unisono führte Järvi elastisch vor, wie der Komponist aus simpler Dreiklangsmotivik Funken schlägt und kostete im Adagio den vorgeschriebenen fahlen Streicherklang dicht am Steg geradezu unheimlich aus. Das irrwitzig fixe Finale mit knatternden Hörnern entpuppte sich als Vorbild für Beethovens motorische Exzesse.
Finale mit Wetterleuchten
In der B-Dur-Sinfonie Nr. 102 schließlich spürte man deutlich, dass Haydn seine Ausdrucksmittel nach drei Jahren noch verfeinert hatte. Wie sich der erste Satz harmonisch verstieg, bis die Flöte es wieder richtete, wie sich Wucht und Feinheit im Menuett abwechselten und das tornadogleiche Finale ein Wetterleuchten einbaute – das war hinreißend erspürt und umgesetzt.
Mit einer allseits bekannten Melodie, einem bis an die Grenze zum Unhörbaren gedämpften Ständchen, entließ Järvi die Hörer in die kalte Winternacht. Der langsame Satz des "Serenadenquartetts" (Nr. 17), hier in Orchesterversion, stammt zwar wohl nicht, wie bis 1964 geglaubt, von Joseph Haydn, sondern von Roman Hoffstetter, aber wen juckt's? Wenn man das so liebevoll spielt!