Bei einem Schallplatten-Blindtest hat der Dirigent Frieder Bernius jüngst renommierte Kollegen kritisiert, die Chöre und Orchester ohne saubere Abstimmung zusammenstellen. Man müsse "Rücksicht nehmen auf das, was da zusammen klingen soll", mahnte er. Und führte jetzt im Sonderkonzert der Deutschen Kammerphilharmonie zum Reformationstag vor, wie man es richtig macht. In der Glocke passte alles zusammen.
Angesagt war das zweiteilige Passionsoratorium "Des Heilands letzte Stunden" von Louis Spohr (1784-1859). Der Frühromantiker, der seine Karriere als Violinvirtuose, als deutscher Paganini, begann und dessen Erfindungsreichtum die Dirigenten den Taktstock und die Geiger die Kinnstütze verdanken, brachte das Werk 1835 als Hofkapellmeister in Kassel zu Uraufführung – es wurde zugleich zum Requiem für seine kurz vorher verstorbene Frau Dorette. Die schöne, gefällige Musik von gut anderthalb Stunden enthält keine großen Ohrwürmer, entwickelt aber einige Schlagkraft und lohnt die Wiederbelebung.
Damit solche Ausgrabungen überzeugen, braucht es erste Qualität. Wie hier: Die stattliche Riege von sieben Gesangssolisten, angeführt von Tenor Florian Sievers als Evangelist Johannes und (als einziger Frau) Sopranistin Johanna Winkel, versammelte erfahrene Oratorienstimmen. Auf den von ihm 1968 gegründeten Stuttgarter Kammerchor kann sich Bernius eh blind verlassen – immer wieder traten daraus Solisten und Ensembles hervor, die mit dem Rest ebenbürtig harmonierten. Die Kammerphilharmonie schmiegte sich wohlig an. Spohr grundiert die Leidensgeschichte des Heilands mit Flokati-Streicherklang, Bernius baute geschickt darauf auf.
Bach stand Pate
Man spürt in dem Oratorium den Nachhall von Bachs "Matthäuspassion", die Felix Mendelssohn 1829 wiederbelebt hatte – mit allen Veränderungen der Neuentdeckung: So hatte Mendelssohn zehn der 15 Arien gestrichen und Oboen durch Klarinetten ersetzt. Bei Spohr gibt es ebenfalls nur wenige Arien, dafür stehen emotionsgetränkte Rezitative im Mittelpunkt. Und der Chor, der sich liedertafelhaft schlicht einführt und damit gut zur empfindsamen, nazarenerhaften Dramatisierung des Bibeltextes durch den Musikkritiker Friedrich Rochlitz passt.
Denn die 36 Nummern seines Librettos sparen alles Politische aus, die Verhandlung vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus fehlt komplett. Stattdessen wird es immer wieder persönlich. Nicht nur die von Gewissensbissen geplagten Jünger Judas (Thomas E. Bauer) und Petrus (die geschmeidigen Baritone Thomas E. Bauer und Arttu Kataja) sind in kurzen Arien zu hören.
Ganz dem Freundschaftskult des Biedermeiers verpflichtet, melden sich in Ensembles und Chören auch regelmäßig Freundinnen und Freunde Jesu kommentierend zu Wort. Ganz unbiblisch erscheinen vor dem Hohepriester Kaiphas (Bassist Felix Rathgeber) überdies die Christus-Fürsprecher Nikodemus (erneut Kataja) und Joseph von Arimathia (Tenor Christian Georg), während ein verblendeter Greis namens Philo (Magnus Piontek mit knorrigem Bass) die Menge aufwiegelt.
Jesus (Maximilian Voglers feiner Tenor), von Holzbläsern begleitet, hat dabei auffällig wenig zu singen, nur ein paar Sätze vor Kaiphas und fünf Worte am Kreuz. Dafür ließ Johanna Winkel im zweiten Teil die zentrale Arie der Maria leuchten, von einem Quartett aus Horn, Harfe, Geige und Cello umrahmt. Danach machten drei fabelhaft abgestimmte Chorsängerinnen klar, wo sich Mendelssohn zum Engelsterzett seines "Elias" inspirieren ließ. Erst recht hinterließ die von Chor und Pauken, Flöten- und Klarinettenblitzen gewaltig gesteigerte Gewitterszene nach Jesu Kreuzestod das Publikum nachhaltig beeindruckt. Die Aufführung, die am Sonntag in Stuttgart wiederholt wird, soll auf CD erscheinen. Darauf darf man sich ehrlich freuen.