Herr Emelyanychev, etliche Hörer Ihrer Mozart-Symphonien auf CD halten Sie für absolut verrückt. Wegen der Raschheit der Tempi und der Freiheit der Interpretation. Was haben Sie denen zu sagen?
Maxim Emelyanychev: Ich würde antworten, dass Mozart selber verrückt war. Ein gewisses Maß an Verrücktheit sollte seinen Werken also wohl anzumerken sein.
Was war verrückt an Mozart?
Die Übersprungshaftigkeit seiner Werke. Die Ekstase. Sein Extremismus. Er fällt, auch wenn Beethoven auf andere Weise ebenso verrückt war, völlig aus seiner Zeit heraus. Und hält sich an keine Regeln. Er wusste das selber auch. An seinen Vater Leopold schreibt er mehrfach, die Leute hielten ihn für durchgeknallt. Unser Job, glaube ich, besteht auch darin, Mozart diese Verrücktheit, die inzwischen von Konventionen und Gewohnheiten zugedeckt wurde, wieder zurückzugeben.
In Bremen spielen Sie das große Klavierkonzert in A-Dur KV 488. Viele können Mozarts Werke dieser Gattung kaum auseinanderhalten. Warum also gerade dieses?
Man versucht immer, einen Kontrast mit den anderen Werken des Programms herzustellen. Dieses besteht aus zwei Mozart-Symphonien. Die Besetzung sollte daher eine etwas andere sein. Der Witz des A-Dur-Klavierkonzertes besteht darin, dass es Klarinetten statt Oboen gibt, und zwar, um einen sinfonischen Charakter herzustellen. Während dieselben Klarinetten in der Sinfonie Nr. 20, die wir gleichfalls spielen, gerade fehlen. Bei der Symphonie Nr. 39 sind sie dann wieder mit dabei. Es ist jedenfalls keine Frage meiner persönlichen Vorlieben. Ich bin ja nur ein Teil des Ganzen.
Im Klavierkonzert spielen Sie zugleich den Solo-Part, und zwar an einem Hammerflügel. Ist Ihnen ein heutiger Konzert-Flügel nicht genug?
Man findet ganz andere Farben, wenn man ältere Instrumente verwendet. Sie haben mehr Pedale. Bei der CD-Produktion nahmen wir einen Conrad-Graf-Hammerflügel, der etwas jünger ist. Diesmal einen etwas kürzeren nach Anton Walter. Es liegt auch am Saal. In einem Konzertsaal, der eine so gute Akustik hat wie die Bremer Glocke, kann ich etwas leisere Flügel verwenden, ohne die Balance zu gefährden. Das ist von großem Vorteil. Wir können feiner spielen, und es geht trotzdem nichts verloren.
Es gab Dirigenten, die meinten, dass auch das Tempo eines Musikstücks vom Saal abhängt. Finden Sie das auch?
Ja. Gustav Mahler zum Beispiel hat derlei gesagt. Tendenziell kann man wahrscheinlich sagen: Je größer der Saal, desto langsamer das Tempo. Ein echtes, überall richtiges Tempo gibt es nicht. Auch schlechte Akustik führt dazu, dass man ein langsameres Tempo wählen muss. Sonst schwimmen die Details ununterscheidbar in der Suppe herum. All das haben wir in Bremen nicht zu gewärtigen. Kein Wunder, dass auch das Publikum hier so gut ist. Es wurde durch einen vorzüglichen Saal zugleich erzogen und auch verwöhnt.
Zwei Tage zuvor dirigieren Sie in der Kirche Unser Lieben Frauen zwei Mal das „Stabat Mater“ von Pergolesi. Heutige Hörer müssen bei dem Werk immer lachen, weil die Zeile „Fac me“ zweideutig klingt. Sie auch?
Schon lange nicht mehr. Erstens muss die Zeile „Fak mäh“ ausgesprochen werden, was die Sachlage etwas verändert. Außerdem bin ich mit dem Werk vertraut, seit ich acht Jahre alt war. Ich bin in einem Knabenchor aufgewachsen und habe das Werk oft gesungen. In jenem Alter waren wir für Zweideutigkeiten sehr aufgeschlossen. Ich könnte Ihnen da noch ganz andere Stellen nennen, die im Russischen obszön klingen. Sogar in Mozarts Requiem.
Solist im Stabat Mater ist der berühmte Countertenor Jakub Józef Orliński. Ein großartiger Sänger, aber könnten Sie ihm nicht mal sagen, dass er sich in letzter Zeit ein gewisses Tröten beim Singen angewöhnt hat – was etliche Rezensenten stört!?
Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Mein Ensemble Il Pomo d’Oro, das beim Musikfest spielt, hat ja die meisten seiner Aufnahmen begleitet. Da wir nicht wissen, wie seinerzeit die Kastraten geklungen haben, müssen wir auch einen solchen Klang, wie ich glaube, in Erwägung ziehen. Orliński ist ein großer Künstler. Ich bin froh, wenn es mal jemand anders macht. Natürlich ist es nicht nötig, dass man in jedem Fall mit seiner Interpretion einverstanden ist.
Sie haben früher im Ensemble MusicAeterna von Teodor Currentzis als Cembalist und Pianoforte-Spieler mitgewirkt. War Currentzis so einflussreich, wie ich annehme?
Musikalisch schon. Obwohl man von allen Dirigenten lernen kann. Auch Gennady Rozhdestvensky war sehr wichtig. Und sogar Frans Brüggen und Roger Norrington, obwohl ich die nie persönlich getroffen habe. Currentzis ist in der Lage, sehr spezielle Atmosphären mit einem Orchester zu kreieren. Er hat sein Orchester stets bis aufs Äußerste gefordert, aber ihm auch viel gegeben. Der Unterschied: Ich probe nicht ganz so manisch.
Sie haben in Nizhni Nowgorod studiert – jener Stadt östlich von Moskau, aus der auch die beiden in Deutschland derzeit bekanntesten Pianisten stammen, Daniil Trifonov und Igor Levit. Zufall?
Kein Zufall. Auch Vladimir Ashkenazy stammt von dort, dem ehemaligen Gorki. Die Stadt war viele Jahre aus militärischen Gründen stark von der Außenwelt abgeschlossen. Man hat dort ein ausgeprägt gutes Verhältnis zur modernen Kunst. Und besitzt ein vorzügliches Konservatorium. In Nizhni Nowgorod kamen Werke von Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina heraus, bevor man in Moskau davon wusste. Mstislav Rostropowitsch hat dort sein Debüt gegeben. Eine sehr musikfreundliche Stadt.
Hat Ihre Ausbildung als Cembalist Ihr Dirigieren beeinflusst?
Eher umgekehrt. Denn das Cembalo kam später. Ich habe zuerst Dirigieren studiert. Beim Cembalo-Spiel wiederum war der berühmte Alexei Lubimov sehr wichtig für mich. Meine Geschichte ist etwas merkwürdig. Ich habe schon als Kind begonnen zu dirigieren, und dann mehr und mehr Instrumente hinzugelernt. Man sollte alles kennen, wenn man vor einem Orchester bestehen will. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass ich mich als Dirigent stark verändert habe.
Ihr Ensemble Il Pomo d’Oro wird von der Schriftstellerin Donna Leon unterstützt. Wie viele ihrer Romane haben Sie gelesen?
Fünf oder sechs bestimmt. Da ich Venedig sehr gut kenne, bin ich immer noch an ihnen interessiert. Donna Leon ist unsere große Freundin. Etliche Romane wurden auch ins Russische übersetzt.
Sie sind Mitte 30, wirken aber immer noch sehr jugendlich. Hat das etwas zu bedeuten?
Vielleicht. Ich finde es auffällig, dass wir bei der Alten Musik oft Komponisten zur Aufführung bringen, die sehr jung verstorben sind. Pergolesi war 26, Mozart ungefähr so alt, wie ich es jetzt bin. Der Beruf ist immer nur der zweite Teil unseres Lebens. Da ich sehr jung angefangen habe, fand ich eigentlich niemals, dass ich zu jung sei. Denn es hätte mir nichts genützt, ich musste ja trotzdem die Musiker überzeugen. Eine Weile saß mein eigener Vater als Musiker im Orchester. Ich dirigierte ihn. Das funktionierte sogar. Eine harte Schule. So bin ich vielleicht äußerlich so geblieben, wie ich war. Aber ich kann Sie beruhigen: nur äußerlich. Ich selber finde übrigens nicht, dass ich jung aussehe.
Denselben Haarschnitt wie früher haben Sie aber schon behalten?
Mehr oder weniger. Wie so viele von uns.