Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Opernpremiere in Bremen Die Gier nach der Bombe

Die Oper "Doctor Atomic" wird in Bremen von Frank Hilbrich in Bildern inszeniert, die man nicht so schnell vergisst. Die Aufführung hat noch weitere Stärken.
17.09.2023, 18:48 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Sebastian Loskant

Die Diktatoren Russlands und Nordkoreas drohen mit Atombomben, Iran erschwert Atomkontrollen, und bayerische Wildschweine sind durch die US-Atomwaffentests der 1950er-Jahre cäsiumverstrahlt. Der Geist der Angst vor der Weltzerstörung, 1945 aus der Flasche gelassen, wurde bis heute nicht wieder eingefangen. Wie naiv es ist, auf die Vernunft des Menschen zu hoffen, führt Frank Hilbrichs bildstarke Inszenierung der Oper "Doctor Atomic" von John Adams im Theater Bremen vor Augen.

Was erzählt die Regie? Vorab schleichen drei Steinzeitmenschen über die Vorbühne, auf dem Bild hinter ihnen zuckt zwischen zwei Zeigefingern à la Michelangelo ein Blitz. Zur Ouvertüre, die mit Paukenschlägen wie in Johannes Brahms' 1. Sinfonie losdonnert, fegen Schwarz-Weiß-Bilder menschlicher Kulturleistungen vorüber. Höhlenmalerei, Osterinsel-Statuen, Felsengräber aus Petra, das Taj Mahal, Eiffelturm, Hochrad, Automobil... "Energie kann nicht erschaffen oder zerstört, sondern nur in der Form verändert werden", singt unsichtbar der Chor.

Das Orchester sitzt unsichtbar hinten auf der Bühne, vorn auf dem Graben erstreckt sich eine Steinwüste. Aus ihrer Tiefe erhebt sich ein Glaskasten (Bühnenbild: Volker Thiele). Ein Raum mit zwei Sesseln und Sofatisch, in dem die drei Physiker Robert Oppenheimer, Edward Teller und Robert R. Wilson ihr Experiment diskutieren. In dieser Vitrine wirken die Erfinder der Atombombe selbst wie Versuchskaninchen. Glatte, einfarbige Polyesterkostüme (Gabriele Rupprecht) der 60er-Jahre, maskenhafte Gesichter und Betonfrisuren lassen alle am Experiment beteiligten Personen wie Figuren eines Science-Fiction-Comics erscheinen.

Lesen Sie auch

Meist bewegen sie sich in Zeitlupe, nachdrücklich prägen sich viele Bilder ein. Wie Kitty Oppenheimer (draußen) mit ihrem Mann (drinnen) nicht zusammenfindet. Wie ein alter grüner Baum in Atompilzform die Vitrine füllt. Wie der Chor von Kopf bis Fuß in Lehm getunkt auftaucht. Wie ein an die Brust gedrücktes Baby zu Sand zerrinnt. Wie Oppenheimer auf dem Triptychon der Leinwände von drei Schatten umtanzt wird.

Was erzählen die Videos? In den Projektionen erscheinen die Menschen mal als (Verfügungs-)Masse, mal als Individuen (Videos: Ruth Stofer). Da krabbeln Ameisen, liegen gesichtslose Puppen herum. Dann wieder treten die Darsteller mit ihren natürlichen Gesichtern auf, umringen auf den Wänden das Publikum. Alle Menschen sind nur Bälle von Mächtigen, die Gott spielen wollen. Einmal erscheint in der Vitrine das Video eines Babys auf dem Wickeltisch. Der Gegensatz zwischen Vernichtungswillen und Humanität brennt sich optisch ein wie die Schatten von Hiroshima.

Was erzählt die O per? John Adams und sein Librettist Peter Sellars schildern in ihrem Werk von 2005 die Tage vor dem ersten Atomwaffentest in Los Alamos. In zwei Akten mit sieben Szenen berichten sie von den Skrupeln des Physikers Wilson, der bei Oppenheimer nicht durchdringt. Dem männlichen Fortschrittsglauben setzen sie weibliche Stimmen der Vernunft entgegen: Kitty Oppenheimer und die vertriebene Indigena Pasqualita, die in poetischen Versen daran erinnert, wie rücksichtlos hier mit Menschen und der Natur verfahren wird. General Leslie Groves, der die Forscher für politisch unzuverlässig hält, trotz widriger Witterung auf den ersten Test drängt und kaltschnäuzig eine Bombardierung Japans ohne Vorwarnung empfiehlt, verkörpert die Barbarei des Kriegs, die Gier nach der Bombe.

Lesen Sie auch

Was erzählt die M usik? Adams' Partitur für großes Orchester unterstreicht das Geschehen mit Elementen der Minimal Music und unter Einbezug  elektronischer Musik atmosphärisch, sie funktioniert wie Filmmusik. Die Bremer Philharmoniker unter ihrem Musikdirektor Stefan Klingele setzen diese Klangfolie sehr wirkungsvoll um, ob Cello oder Harfe intime Momente begleiten, die Streicher Unruhe anzeigen oder das Blech aufschreit.

Bei den Darstellern führt die (nach der Pause gemilderte) Mikrofonverstärkung dazu, dass dynamische Feinheiten nicht immer deutlich werden, doch eindringlich singen alle acht. Sopranistin Nadine Lehner setzt die Ängste der Kitty Oppenheimer in expressive Koloraturen um, Mezzo Constanze Jader als Pasqualita wird mit ihrem ruhig strömenden Gesang zum Gewissen der Aufführung. Bariton Michal Partyka gestaltet einen blasierten, coolen Oppenheimer, der – wenn er seinen Kasten verlässt und mit einem Gott hadert, an den er nicht glaubt – umwerfend dramatische Töne findet.

Die beiden Neuen im Ensemble, Bassbariton Hidenori Inoue als Pragmatiker Teller und Tenor Oliver Sewell als Zweifler Wilson, erweisen sich mit ihren Prachtstimmen unbedingt als Gewinn. Bariton Elias Gyungseok Han stattet den General Groves mit den passend finsteren Tönen aus. Die von ihm schikanierten Meteorologen verkörpern glaubhaft Bassist Christoph Heinrich und Bariton Wolfgang von Borries.

Wie wird das Ende erzählt? Der Schluss gehört nach drei Stunden der geängstigten Weltbevölkerung: Der Chor unter seiner neuen Leiterin Noori Cho, der zuvor kurze intensive Auftritte hatte, steht weitgehend wortlos auf der Bühne. Alle warten auf den Atomtest. Dieses Warten von fünf Minuten dehnt John Adams auf das Dreifache aus. Kein sehr geschickter Einfall: Wenn man zu Celesta-Klängen eine Viertelstunde in beklommene Gesichter schaut, lässt die Anspannung irgendwann nach. Zumal der große Knall bewusst ausgespart bleibt.

Frank Hilbrich setzt immerhin einen letzten Akzent, indem er den Lichtblitz der Bombe durch eine kurze Blendung des Publikums simuliert. An der Intensität der Aufführung und dem Ernst ihrer Botschaft ist nicht zu rütteln.

Info

Die Oper "Doctor Atomic" läuft wieder am 22. und 30. September, 12. und 20. Oktober, 24. November, 13. und 28. Dezember sowie 10. und 19. Januar um 19.30 Uhr, am 3. Oktober und 4. November um 18 Uhr, am 22. Oktober um 15.30 Uhr.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)