- Um was geht es?
- Wie ist der Roman für die Bühne übersetzt?
- Wie inszeniert Alize Zandwijk?
- Wie agiert das Ensemble?
Als Stasia Jaschi stirbt, ist sie 99 Jahre alt – ein Jahr jünger als das zu Ende gehende 20. Jahrhundert. Das Publikum hat sie und ihre Familie da schon eine ganze Weile begleitet, doch die Geschichte der Familie Jaschi wird noch weiter erzählt. Bis ins Jahr 2006, als Stasias Ururenkelin Brilka die Bühne betritt, tanzend, ganz in weiß gekleidet, wie ein unbeschriebenes Blatt, dem die Zukunft gehört.
Bevor Regisseurin Alize Zandwijk dieses eindrückliche Bild zeigt, sind satte viereinhalb Stunden im Theater am Goetheplatz vergangen. Es ist eine lange Zeit, es ist anstrengend, doch keine Minute ist zu viel. Alle Beteiligen hatten sich den opulenten Schlussapplaus und die Standing Ovations bei der Premiere am Sonnabend mehr als verdient.
Um was geht es?
Alize Zandwijk und ihr Team haben sich den Roman "Das achte Leben (für Brilka)" der georgischen Autorin Nino Haratischwili vorgenommen. Sie entwirft auf mehr als 1300 Seiten ein Panorama des 20. Jahrhunderts in ihrer Heimat, verknüpft Geschichte – russische Revolution, Stalins Massenmorde, Zweiter Weltkrieg, Tauwetter und Prager Frühling, Perestroika und Zerfall der Sowjetunion – mit dem Schicksal von fünf Generationen der Familie Jaschi. Erzählt ist das alles als Rückblick der ausgewanderten Niza Jaschi "für Brilka", ihre zwölfjährige Nichte.
Wie ist der Roman für die Bühne übersetzt?
Die Inszenierung am Theater Bremen greift auf eine Bühnenfassung des Romans von Emilia Linda Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel zurück. Durch deren (notwendige) Kürzungen geht das Epische, weit Ausholende der Vorlage verloren, aus den Personen und ihren Geschichten werden auf ihre wesentlichen Eigenschaften reduzierte Figuren. Ganze Kapitel kommen nur als Stichworte vor. Daher bleibt die Frage, ob diejenigen, die nicht mit dem Roman vertraut sind, der stark gekürzten Fassung ohne Mühe folgen und die Ausschnitte für sich logisch verknüpfen können.
Wie inszeniert Alize Zandwijk?
Alize Zandwijk und ihr Team werfen in elliptisch angelegten Episoden konzentrierte und dicht inszenierte Schlaglichter auf die Geschichte der Jaschis, zeigen geplatzte Träume, enttäuschte Hoffnungen, Grausamkeit und Verrohung in "einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat", wie es im Roman heißt. Aber neben all dem Schmerz und der Trauer ist da auch viel Liebe, Zusammenhalt und Stärke. Der Wille, das alles irgendwie zu überleben.
Bühnenbildner Thomas Rupert hat ganz hinten Mini-Garderoben gebaut für diejenigen, deren Erzählung gerade pausiert – die aber schon Teil des Gesamten sind und daher mitgedacht werden müssen. Über die restliche (große) Fläche verteilt treffen die Personen in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander; an Requisiten braucht die Inszenierung lediglich eine Mindestausstattung: Tisch, Stuhl, Bett. Aber es werden nach und nach immer mehr Teppiche ausgelegt, als Sinnbilder von Geschichten, deren Fäden sich miteinander verknüpfen. Ebenso sparsam wie geschmackvoll verfährt die Inszenierung mit Projektionen: Jahreszahlen und Ereignisse werden eingeblendet, damit man sich zurechtfindet. Manchmal gibt es elegisch wirkende schwarz-weiße Animationen und Videos, die die Verheerungen des Krieges oder Landschaften nachempfinden (verantwortlich: Ganna Bauer, Andreas Karch).
Wie agiert das Ensemble?
Wie immer bei Alize Zandwijk steht das Ensemble im Mittelpunkt; es wird stark körperbetont agiert. Alle lassen ihre Figuren so lebendig werden, wie es trotz der Kürzungen möglich ist – und es klappt. Man fühlt sich den Familienmitgliedern genauso nah wie bei der Lektüre des Romans. Susanne Schrader und Fania Sorel sind als Familienoberhäupter Stasia und Christine gemeinsam ein sicherer Anker. Ferdinand Lehmann ist großartig als Stasias Sohn Kostja, der in der Marine und beim Geheimdienst Karriere macht und ein skrupelloser und verbitterter Mensch wird.
Nadine Geyersbach überzeugt als Stasias geschundene und verbannte Tochter Kitty, Karin Enzler als verzogene, haltlose Elene. Levin Hofmann ist erst Andro, dann Miqua Eristawi – Sinnbilder dessen, was mit Dissidenten in der Sowjetunion geschah. Verfolgt, weggesperrt, gebrochen. Guido Gallmann verleiht gleich mehreren Rollen Profil, ebenso Shirin Eissa, deren Präsenz wieder ungemein stark ist. Das trifft auch auf Jorid Lukaczik zu, die gerade erst angekommen ist am Theater und hier in gleich vier Rollen zeigt, welches Potenzial in ihr steckt.
Nicht vergessen werden darf Matti Weber, der für den stimmungsvollen Soundtrack sorgt. Musik und Gesang sind eine weitere Ebene dieser trotz ihrer Länge kompakten und zutiefst anrührenden Inszenierung. Zum Schluss tanzt nicht nur Brilka (Jorid Lukaczik), es tanzen alle. Denn in der Zahl Acht, dem Symbol für Unendlichkeit, heißt es im Roman, "werden wir alle für immer miteinander verwoben sein und immer einander lauschen können, durch die Jahrhunderte hindurch".