Die Gäste kommen! Leonie und Pia schauen zu, wie die ersten im Auto vorfahren. Wie sie Geschenke aus dem Kofferraum holen. Und wie sie vor der Wohnungstür stehen und lesen, was die Mädchen auf ein Blatt Papier geschrieben haben: „Achtung! Heute feiert hier der beste Papa der Welt Geburtstag!“ Tobias Laatz ist jetzt 36. Es gab mehrere Ärzte, die davon ausgegangen waren, dass er nicht so alt werden würde.
Am Morgen haben sie für ihn gesungen. Leonie und Pia kamen als Erste ins Schlafzimmer, dann Doris Laatz mit Fabienne, der jüngsten Tochter. Sie weckten ihn mit „Happy Birthday“. Später packten sie für ihn aus, was er sich gewünscht hatte: ein neues Trikot. „Lebenslang Grün-Weiß“ – so steht es auf einem Foto von ihm. Tobias Laatz, der Werder-Fan. Die Aufnahme ist zwei Jahre alt. Damals konnte er Geschenke noch selbst auspacken.
Leonie und Pia zählen jeden, der gekommen ist. Denn jeder bekommt eine Eintrittskarte von ihnen. Die Mädchen sagen, dass es nachher eine Show geben wird. Und dass die Show ihr Geschenk an den Vater ist. Am Ende werden sie 20 Zuschauer haben. Viele sind da, die dabei waren, als Tobias und Doris Laatz geheiratet hatten. Freunde, Neffen, seine Schwester, ihre Schwester, der Bruder, der Vater. Sie sitzen im Wohnzimmer, auf dem Balkon und immer wieder an seinem Bett.
Er wird an seinem Geburtstag liegen bleiben. Tobias Laatz schaut auf den Rollstuhl, der neben ihm steht. „Z-u h-e-i-ß, z-u m-a-t-t.“ Schweiß steht auf seiner Stirn, während er mit den Augen schreibt, was der Sprachcomputer für ihn sagt. Am Monitor hängt ein Luftballon, der sich im Kreis bewegt. Der Ventilator läuft. Tobias Laatz liegt mit freiem Oberkörper im Bett. Immer wieder kommt Doris Laatz ins Zimmer, um ihm die Schläfen zu kühlen.
Tobias Laatz schreibt, dass er sich über die Besucher freut, vor allem über Leonie. Seit einer Woche ist sie da – als Gast. Seine älteste Tochter wohnt jetzt bei seinem Bruder. Tobias Laatz glaubt, dass es ihr mehr zu schaffen macht als jedem anderen, jeden Tag zu sehen, wie er immer weniger wird und kann. Nachher wird Leonie sagen, dass es okay ist, dass ihr Vater nicht ins Wohnzimmer kommen kann, um die Überraschungsshow zu sehen: „Dann kommt die Show eben später zu ihm.“
Die Gespräche
Eigentlich sollte auch die Feier eine Überraschungsfeier werden. Tage vorher hat Doris Laatz ihm dann doch erzählt, was sie und andere für ihn seit Wochen vorbereiten. Sie wollte sichergehen, dass es für ihn wirklich in Ordnung ist, mehr Besuch als sonst zu bekommen. Viel mehr Besuch. Doris Laatz kann sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal mehr Gäste hatte als jetzt – und wann sie die Stimme des Sprachcomputers so viel so oft etwas sagen hörte wie während der Feier.
Dagmar Blanke, seine Tante, sitzt jetzt an seinem Bett. Erst redet sie, und er hört zu. Dann schweigt sie, während er schreibt. Irgendwann fangen beide zu lachen an. Sie laut, er lautlos. Blanke hat gemacht, was sie für Tobias Laatz immer macht: Sie hat gekocht – und zwar alles, was er früher am liebsten mochte. Sie weiß, dass er ihre Salate, Fleischspieße und Schokodonuts nicht mehr essen kann, weil er jetzt eine Magensonde hat. Sie sagt, dass sie nicht anders kann, als ihm auf diese Weise zu zeigen, nichts vergessen zu haben, was und wie er mal war.
Später wird sie noch etwas anderes sagen: dass sie fest an ein Medikament glaubt, das ihn retten wird – „an ein Wunder“. Auch andere reden an diesem Nachmittag so. Nur Ärzte nicht. Tobias Laatz hat eine Amyotrophe Lateralsklerose. Und die, erklären sie, ist unheilbar. Alle Muskeln werden irreparabel geschädigt. Erst sprachen Mediziner von Monaten, die ihm noch bleiben. Jetzt gehen sie davon aus, dass er theoretisch zwei, drei Jahre so leben könnte, wie er jetzt lebt: mit Intensivpflegern, die ihn betreuen, und einer Maschine, die ihn beatmet.
Wunder – auch Detlev Dewers glaubt an eines. Er sagt, dass sein Sohn durchhalten wird, bis eine Medizin für ihn auf den Markt kommt. „Tobi ist ein Kämpfer.“ Den Beleg dafür trägt er immer bei sich. Dewers hat ein Video von seinem Sohn mit dem Smartphone gemacht, als er vorübergehend in einem Altenheim betreut wurde. Die Augen von Tobias Laatz sind geschlossen, sein Gesicht ist schweißnass. Immer wieder ist Dewers‘ Stimme zu hören: „Tobi, sag‘ doch etwas? Tobi, was ist mit dir? Tobi, wach‘ doch auf!“
Detlev Dewers weiß jetzt, warum sein Sohn nicht aufwachen konnte. Er hatte eine schwere Lungenentzündung – und, wie der Vater sagt, mehr Beruhigungsmittel bekommen als je zuvor: „Der Heimarzt meinte, die Familie sollte kommen, um sich von Tobias zu verabschieden.“ Doris Laatz hat sich nicht verabschiedet, sie rief den Rettungswagen. Tobias Laatz kam auf die Intensivstation. Dewers sagt, dass dies das Schlimmste in den vergangenen Monaten war. Und dass sein Sohn das Schlimmste überlebt hat.
Jetzt liegt er im Schlafzimmer und schaut auf den Bildschirm über ihm. Bässe wummern aus den Lautsprechern des Sprachcomputers. Tobias Laatz hat sie voll aufgedreht. Dagmar Blanke ist wieder bei ihm. Diesmal sitzt sie nicht am Bett, sondern tanzt neben dem Bett. Und Claudia Hennig und Elke Trachsel tanzen mit. Die eine kennt Tobias Laatz seit Jahrzehnten, die andere seit Jahren. Alle lachen, alle haben rote Gesichter. Später, auf dem Balkon, wird Hennig einen Satz über Tobias Laatz abrupt beenden. Sie wird sich wegdrehen und Tränen wegwischen. Sie wird sagen, dass die Krankheit ungerecht ist.
Die Show
Auch aus dem Wohnzimmer kommt Musik. Die Show beginnt. Leonie ist mal ein Clown, der über seine eigenen Füße stolpert, mal Michael Jackson, der den Moonwalk macht. Hinterher wird sie zum Magier und Pia zur Assistentin. Zusammen zaubern sie erst Kaninchenfutter aus dem Hut, dann einen Stoffhasen. Es gibt so viel Beifall, dass die Mädchen eine Zugabe geben: Sie tanzen, anfangs zu zweit, schließlich zu dritt. Fabienne macht in ihren Windeln nach, was die großen Schwestern in ihren Kostümen vormachen.
Tobias Laatz hat mal geschrieben, dass die Familie für ihn alles ist, weil sie ihm alles gibt: „H-o-f-f-n-u-n-g, S-i-c-h-e-r-h-e-i-t, A-b-l-e-n-k-u-n-g.“ Während der Geburtstagsfeier hat er weniger Atembeschwerden als sonst. Und in der Nacht wird er kein einziges Mal aufwachen vor Angst, er könnte ersticken. Die Panikattacken, sagt seine Frau, sind später gekommen. Am nächsten Tag, der Alltag war.
Das ist der letzte Teil der Serie "Das Leben eines Schwerkranken". Ein Jahr lang haben wir Tobias Laatz, seine Frau, seine Kinder, Freunde und Pfleger begleitet. Wir werden sie aber auch weiterhin besuchen und über sie schreiben.