Ein gutes Drittel der Wähler findet Carsten Sieling okay, ein knappes Drittel nicht so doll, der Rest kennt ihn kaum oder sieht sich nicht zu einem Urteil in der Lage: Für den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes ist ein solches Abschneiden in einer Umfrage höchst unbefriedigend. Schon 2016, als die Demoskopen von Infratest-Dimap erstmals die Zufriedenheit mit dem Bürgermeister erhoben, waren die Werte nicht berauschend. Damals gaben immerhin noch 42 Prozent der Befragten an, zufrieden oder sehr zufrieden mit der Arbeit des SPD-Politikers zu sein. Das Stimmungsbild entstand zehn Monate nach Sielings Amtsantritt. Boshaft könnte man sagen: Je länger die Bremer ihren Bürgermeister kennen, desto weniger mögen sie ihn.
Wie kommen die schlechten Werte zustande? An Sielings Arbeitshaltung kann es nicht liegen. Der Mann ist fleißig und bescheiden, ein intelligenter Finanzfachmann, der wesentlichen Anteil daran hatte, dass Bremen ab 2020 deutlich mehr Geld aus Berlin bekommt. Aber: Die Verheißungen der Zukunft sind das eine, die kaputt gesparte öffentliche Infrastruktur das andere. Acht Jahre strikter Sparkurs haben ihre Spuren im Stadtbild hinterlassen – an den Schulen, auf den Straßen, in der Verwaltung. Dass man als Chef einer Landesregierung für die triste Gegenwart haften muss und die Bürger noch keine Vorschüsse auf die Zeit nach 2020 gewähren, ist naheliegend.
Fehlendes Charisma
Es gab Zeiten, da waren Bremens Zukunftsaussichten deutlich schlechter als heute. Arbeitsplätze in den klassischen Industrien brachen weg, das kleinste Bundesland versank im Schuldensumpf. Doch Bürgermeister wie Hans Koschnick und Henning Scherf verstanden es, mit ihrer Aura die Misere zu überstrahlen. Sie erkämpften Wahlsiege gegen die Wirklichkeit. Diese Fähigkeit ist Carsten Sieling nicht gegeben. Der 59-Jährige kann im persönlichen Gespräch gewinnend und überzeugend sein, aber Charisma ist kein Begriff, den man mit ihm verbindet.
Nun muss man keine Rampensau sein, um es als Politiker zu etwas zu bringen. Bestes Beispiel ist Hamburgs früherer Bürgermeister Olaf Scholz. Ebenfalls ein Sozialdemokrat, ebenfalls ein ausgewiesener Finanzfachmann, fleißig und bescheiden. Auch von ihm ist nicht bekannt, dass er je in Bierzelten die Massen in Ekstase versetzt hätte. Aber Hamburg ist erfolgreich, seit vielen Jahren eine boomende Metropole, das Schwungrad des Nordens. Wer als dröger Politiker Erfolge vorzuweisen hat, der wird mit positiven Adjektiven wie unprätentiös, bodenständig, verlässlich beschrieben. Als Typ, der keine großen Worte macht, sondern Taten sprechen lässt. Wer als dröger Politiker ein Haushaltsnotlageland und Pisa-Schlusslicht regiert, der ist – dröge.
Natürlich ist Bremen mit der Vokabel Haushaltsnotlageland nicht umfassend beschrieben. Der Senat hat auch Erfolge vorzuweisen. Beim Wohnungsbau hat man die Schlagzahl deutlich erhöhen können, das Wirtschaftswachstum war 2017 bundesweit Spitze, die Integration von Flüchtlingen gelingt vergleichsweise gut. Auf dem SPD-Landesparteitag zog der Bürgermeister kürzlich einen Summenstrich unter diese Fortschritte und sah für seine Partei gar eine „Erntezeit“ anbrechen. Aber Sieling möchte mehr. Er will eine Vision für die Stadt entwerfen. Die von ihm einberufende Zukunftskommission soll einen Entwicklungshorizont für den Zwei-Städte-Staat bis 2035 entwerfen.
Sielings Zukunftsdialog mit Akteuren der Stadtgesellschaft und externen Experten könnte auf diversen Themenfeldern tatsächlich interessante Impulse liefern, sofern die Ergebnisse nicht zu abstrakt bleiben und es gelingt, griffige Schlüsselprojekte zu formulieren. Aber das Timing lässt erkennen, dass es sich bei der Zukunftskommission auch um ein Wahlkampfvehikel handelt. Im Oktober, wenn die Ergebnisse endgültig vorliegen werden, ist es noch ein halbes Jahr bis zur Bürgerschaftswahl. Carsten Sieling möchte im Mai 2019 nicht in erster Linie für das Erreichte wiedergewählt werden, sondern für das, was er dem Wahlvolk glaubhaft in Aussicht stellen kann. Da hat er noch ein hartes Stück Arbeit vor sich.
Weitere Informationen
Die Umfrage
Das Institut Infratest-dimap hat im Auftrag des WESER-KURIER vom 13. bis zum 18. April 1002 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte im Land Bremen telefonisch befragt. Alle Daten der repräsentativen Umfrage stellen wir seit Mittwoch in vier Folgen vor.