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Geschichte Was Bremen mit der NS-Kultstätte Stedingsehre verbindet

Auf die Stedinger Bauern war der Bremer Erzbischof nicht sonderlich gut zu sprechen. Auf sein Betreiben zog 1234 ein Kreuzfahrerheer in die Wesermarsch – in der NS-Zeit rühmte man die Bauernkrieger.
03.09.2023, 17:01 Uhr
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Von Asmut Brückmann

Vor einigen Wochen berichtete der WESER-KURIER über eine "Nazi-Wanderung zur Kultstätte in Ganderkesee". Auch der Verfassungsschutz war alarmiert. Denn der Sonntagsausflug war alles andere als harmlos. Zur Wandergruppe gehörten bekannte Rechtsradikale und Neonazis. Ihr Ziel war die Freilichtbühne Stedingsehre in Bookholzberg, eine in den 1930er-Jahren von den Nazis eingerichtete Kultstätte. Wie kam die Gemeinde in der Wesermarsch zu dieser fragwürdigen Ehre? Die historischen Hintergründe reichen bis ins Mittelalter zurück.

Alles begann 1234 mit der Schlacht bei Altenesch, als rebellische Stedinger Bauern im Kampf um ihre Rechte von einem Kreuzfahrerheer geschlagen wurden. Weil das Bauerntum in der Ideologie der Nazis eine wichtige Rolle spielte, veranstalteten sie im Jubiläumsjahr 1934 eine zweitägige Gedenk- und Propagandafeier. Höhepunkt war die Uraufführung des Schauspiels "De Stedinge" des Heimatdichters August Hinrichs. Auch viele Bremer ließen sich das Spektakel nicht entgehen. Die Reederei Schreiber offerierte Sonderfahrten mit dem neuen Salonschiff "Hanseat": "Beste Fahrgelegenheit zur 700-Jahr-Feier 'Stedings-Ehre' – Landung direkt in Altenesch – Abfahrt nur Kaiserbrücke – Fahrpreis nur 50 Pfg., Rückfahrt frei." Etwa 30.000 Menschen aus der Wesermarsch, Bremen und dem Umland bevölkerten schließlich das beschauliche Dorf an der Weser.

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Hinrichs' Theaterstück, das den Freiheitskampf der Stedinger Bauern in Szene setzte, war ein gefundenes Fressen für die NS-Ideologen. Das Geschehen passte in ihr Idealbild von hart arbeitenden Bauern, die von Kirche und Adel unterdrückt wurden. Bauern verkörperten in ihren Augen die Einheit von "Blut und Boden" und schufen die Lebensgrundlage des Volkes.

Für die Uraufführung hatte man eigens eine mittelalterlich anmutende Dorfkulisse hergerichtet. Gut 300 Schauspieler und Statisten der Niederdeutschen Bühne Oldenburg wirkten mit. Der Bremer Senat und weitere hohe NS-Prominenz waren angereist. Gauleiter Carl Röver, Reichsstatthalter von Oldenburg und Bremen, begrüßte die Ehrengäste, unter ihnen als Hauptredner den Reichsbauernführer Walter Darré sowie den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg. Pathetisch sprach dieser vom "Heiligen Land" der Stedinger, das "von Deutschen mit dem Blute verteidigt wurde". An diesem heiligen Ort könne "die Seele eines jeden Deutschen" Kraft schöpfen. Er verglich die Toten von Altenesch mit den gefallenen Straßenkämpfern der SA. Der "Völkische Beobachter" konstatierte befriedigt: "Die Bauern heben den Arm, die Bauern singen das Sturmlied Horst Wessels, singen die Lieder vom freien Bauerntum."

Bei diesem Festwochenende sollte es nicht bleiben. Röver und seine Gesinnungsgenossen planten eine fest eingerichtete germanisch-völkische Kultstätte, eine Art "Oberammergau des Nordens", wie sie es nannten, eine "weltanschauliche und politische Kraftquelle aller Menschen im Raume Weser-Ems". Im benachbarten Bookholzberg bauten sie eine Freilichtbühne mit Dorfanlage, die etwa 20.000 Zuschauern Platz bot und auch für Kundgebungen und NS-Feierlichkeiten genutzt wurde. Nach 1945 wurde die Anlage unter Denkmalschutz gestellt, aber wegen ihrer belasteten Vergangenheit nur noch vereinzelt als Freilichttheater oder Konzertbühne genutzt. Kürzlich hat auf der Anlage das Informations- und Dokumentationszentrum Stedingsehre (IDZ) geöffnet.

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Mit "Blut und Boden" oder ähnlichen Phrasen hätten die mittelalterlichen Stedinger wohl kaum etwas anfangen können. Beim Konflikt mit den Bremer Erzbischöfen ging es um vereinbarte Rechte und handfeste Interessen. Erzbischof Friedrich I. hatte ihre Vorfahren Anfang des 12. Jahrhunderts aus Holland angeworben, um das unter seiner Oberherrschaft stehende unwirtliche Marschland rings um Bremen zu entwässern, einzudeichen und nutzbar zu machen. Sie hatten zwar Abgaben zu zahlen, brauchten aber keine Frondienste zu leisten, konnten über Grund und Boden frei verfügen und sich selbst verwalten.

Die neuen Siedler entwässerten die Moore und Sümpfe im Bremer Umland und an der Unterweser. Das so gewonnene Neuland schützten sie mit Deichen vor Überflutungen. Verständlich, dass sie nun die Erträge ihrer Mühen auch ernten wollten. Sie kündigten dem Erzbischof die Gefolgschaft auf und verweigerten die Abgaben. Diesen Affront ließ der Erzbischof nicht auf sich sitzen. Ein jahrelanger Kleinkrieg begann. Die Kontroverse spitzte sich zu, als 1219 der energische Gerhard II. Erzbischof wurde. Er stellte ein Heer auf, das die widerspenstigen Bauern in die Knie zwingen sollte. Doch erst einmal holten sich seine Truppen bei Hasbergen eine blutige Nase.

Daraufhin berief Gerhard II. eine Provinzialsynode ein, die die Stedinger mit fadenscheinigen Beschuldigungen als Ketzer verurteilte. Ein Kreuzzug sollte nun die Abtrünnigen zur Räson bringen. Adlige aus Brabant, Flandern, Holland und vom Niederrhein folgten dem Aufruf des Papstes in die Wesermarsch. Schützenhilfe erhielt der Erzbischof auch von den Bremer Stadtbürgern. Nach zähen Verhandlungen erklärten sie sich bereit, Transport- und Versorgungsschiffe für das Kreuzfahrerheer zur Verfügung zu stellen. Dafür musste der Erzbischof das Bremer Stadtrecht anerkennen, auf unberechtigte Zölle im Umland verzichten und den Bürgern weitere Vergünstigungen einräumen.

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Im Mai 1234 kam es zur Entscheidungsschlacht. Diesmal hatte das Bauernheer keine Chance. Albert von Stade, Bremer Domherr und Abt eines Klosters, beschrieb das Geschehen mit drastischen Worten: "Die Stedinger, als ob sie an den Brüsten wilder Tiere großgezogen wären, wüteten jetzt immer grausamer. Sie hörten auch jetzt nicht auf, die Schlüsselgewalt der Kirche mit ihren schändlichen Lippen schimpflich zu verhöhnen. Die Stedinger […] rückten […] wie rasende Hunde gegen die Kreuzfahrer vor." Vergeblich, die Rebellen mussten sich dem Erzbischof und seinen adligen Mitstreitern beugen. Viele flohen ins westliche Friesland, wer blieb, verlor seine althergebrachten Freiheiten.

Den Anstoß zur 600-Jahr-Feier der Schlacht und zur Errichtung eines Denkmals gab der Altenescher Pastor und Heimatforscher Gerhard Steinfeld. Er sammelte Geld für einen gusseisernen Obelisken, der am Ortsausgang von Altenesch aufgestellt wurde und den Namen Stedingsehre erhielt. Die Aufschrift lautet: "Den im Kampfe für Freyheit und Glauben auf diesem Schlachtfelde gefallenen Stedingern – Am 22. May 1234 unterlag den mächtigen Feinden das tapfere Volk – Am Jahrestage der Schlacht 1834 geweihet von späten Nachkommen – Bolke von Bardenfleth, Thammo von Huntorp, Detmar vom Dieke fielen als Führer mit ihren Brüdern."

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Für Steinfeld waren die Stedinger Vorläufer der zeitgenössischen Nationalbewegung und die Gedenkfeier war ein Nationalfest: "Schon vom Mittage an strömte eine große Menge Volks im Festanzuge […] zum alten Schlachtfelde hin, die Weser und Ochtum waren mit Schiffen, die Wege mit Fuhrwerken, Reitern und Fußgängern bedeckt und lange Züge froher Menschen wandelten in Frieden dem Ort zu, wo vor 600 Jahren Tausende wilder Krieger wüthend gekämpft hatten. Ein Geist, der Geist ächter Humanität und gesetzlicher Freyheit schien alle Anwesenden zu beseelen."

Waren die Stedinger Bauern Freiheitskämpfer gegen feudale Unterdrücker oder Rebellen? Der Heimatdichter Hermann Allmers schreibt in seinem "Marschenbuch" von 1858: „Es war eine todesmuthige Schaar, die für die höchsten Güter auf Erden stritt, für Freiheit, Recht und für den lieben, theuren Heimathsboden, welchen die Väter mit Mühe und Noth den Fluthen entrungen, viele Jahre hindurch vertheidigt und oft mit ihrem Blute gedüngt hatten."

Zur gleichen Zeit urteilte der Stader Superintendent Friedrich Wilhelm Wiedemann: "Wir wollen die Kraft und Aufopferungsfähigkeit der Stedinger anerkennen; wir wollen den Fürsten nicht rühmen, der mit Lug und Trug das Kreuzheer zusammenbrachte; aber wir müssen immer die Behauptung aufrechterhalten, […] die Stedinger waren ungerechtfertigte Empörer." Vermutlich traf Allmers den Nagel auf den Kopf: "Es besitzt kein Volk ein so prächtiges Oppositionstalent als das der Marschen. Zur Revolution taugt es dagegen ganz und gar nicht, da ihm alles Feuer und alle echte Begeisterung abgehen und es conservativ durch und durch ist."

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