Den Fund von rund vier Regalmetern Aktenordnern mit Posteingängen unbekannten Bearbeitungsstandes sowie mehrerer Tausend Akten im Sozialzentrum in der Vahr bezeichnete Rolf-Dieter von Bargen, Chef der Innenrevision bei der Sozialsenatorin, als "außergewöhnliche Dimension". So einen Umfang habe er in seiner fast 20-jährigen Dienstzeit nicht gesehen, sagte der Beamte in der Sondersitzung der Sozialdeputation, die sich am Freitag erstmals ausführlich mit dem Vorfall befasste.
Deutlich wurde, dass wegen der hohen Zahl der zu kontrollierenden Papiere die Innenrevision wohl zusätzliches Personal benötigt oder auch Unterstützung aus anderen Behörden. Die große Zahl der Akten ergibt sich aus dem langfristigen Ausfall von Mitarbeitern des Sozialzentrums, sodass die Kontrolleure die Ordner mit den Posteingängen sowie die Akten in "verwaisten Büros" vorfanden. Allerdings blieb auf der Sitzung unklar, wie lange die Mitarbeiter dort fehlten, wann also die Bearbeitung eingestellt wurde.
Seit dem Fund mehren sich aber die Vorwürfe und Hinweise auf weitere Unregelmäßigkeiten auch in den übrigen Sozialzentren der Stadt. Die fast immer anonym geäußerten Beschwerden zeichnen das Bild einer überforderten Sozialverwaltung, der es wiederholt nicht gelingt, Vorgänge in angemessenen und zum Teil auch vorgeschrieben Fristen zu bearbeiten. Die Bürgerschaftsabgeordnete Sandra Ahrens (CDU) berichtete in der Deputation, dass demnach etwa im Sozialzentrum Süd Ordner angeblich als Loseblattsammlungen geführt werden, in einigen Fällen seien Gelder ohne Prüfung ausgezahlt, in anderen Fällen Anträge schlicht nicht bearbeitet worden.
Diese Beschreibung der Sozialbehörde wies Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) umgehend und vehement zurück. "In einem amerikanischen Gerichtsfilm würde der Anwalt jetzt Hörensagen rufen", kritisierte sie die Anonymität der Beschwerden. Man könne keine Vorfälle aufarbeiten, bei denen nicht Ross und Reiter genannt würden. Weil bei dem Aktenfund ausschließlich wirtschaftliche Hilfen des Jugendamtes betroffen sind, nahm auch dessen Leiter Timon Grönert an der Sitzung teil. Er wies auf Anfrage zurück, dass sich die Beschwerden etwa über ausbleibende Zahlungen häufen. Von daher ging er, ebenso wie die Innenrevision, in einer ersten Einschätzung davon aus, dass es sich bei den aufgefunden rund 1700 Akten, in denen es um Unterhaltsvorschüsse etwa für Alleinerziehende geht, nicht um noch laufende Fälle handelt. Für Ahrens eine vorschnelle Schlussfolgerung. "Das können Sie derzeit doch gar nicht sicher ausschließen."
Geht es um Pflegefamilien, ist die Sachlage nach Darstellung der Betroffenen noch etwas komplizierter. "Von denen wird sich auch bei großen Problemen niemand offen beschweren, dazu ist die Sorge zu groß, damit die Pflegschaft zu gefährden", sagte Annette Hohlmeyer vom Bremer Sprecherrat der Übergangspflege-Eltern. Pflegefamilien nehmen im Grunde als Dienstleister für das Jugendamt Kinder in Obhut und werden dafür bezahlt, die offizielle Vormundschaft verbleibt aber beim Amt. Die Pflegschaft kann also jederzeit enden.
Eine Betroffene berichtet dem WESER-KURIER aus diesem Grund auch nur, wenn ihr Name nicht in der Zeitung steht. Sie erzählt, dass eine längst überfällige Weitergabe ihres in einem der Bremer Sozialzentrum angedockten Falles an ein niedersächsisches Jugendamt nicht stattfinde, weil es nicht gelinge, die offenbar unvollständig geführten Fallakten übergabefähig zu machen.
Weil zudem wichtige Hilfe-Gespräche zum Umgangsrecht der leiblichen Eltern zum Pflegekind über Monate nicht geführt wurden, habe die Mutter bereits die Familiengerichte bemüht. "Weil eine Behörde nicht ordentlich arbeitet, bekommen die ebenfalls überlasteten Gerichte zusätzliche Arbeit", kommentiert die betroffene Pflegemutter. Gründe für die Probleme sind nach ihren Angaben vielfach wechselnde Fallmanager in der Bremer Behörde, verursacht durch Krankheitsfälle und eine mutmaßlich grundsätzlich zu dünne Personaldecke. "Weil die Vertretungen sich erst mit den jeweiligen Fällen vertraut machen müssen, verzögert das notwendige Entscheidungen."
"Wenn uns als Opposition schon Beschwerden über die Sozialzentren in der Parteizentrale erreichen, liegt da einiges im Argen", kommentiert Ahrens. Sie sieht daher den Aktenfund im Sozialzentrum Vahr als Spitze eines Eisbergs. Sie erinnert an zurückliegende Skandale im Bereich des Jugend- und Sozialamtes, wie etwa die Insolvenz der Kannenberg-Akademie, die für fast vier Millionen Euro Verlust für Bremen sorgte, weil die Sozialbehörde hohe pauschale Abschläge im Voraus für die Betreuung und Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen bezahlt hatte. Die Vermischung dieses und anderer zurückliegender Ereignisse mit den aktuellen Problemen befand Stahmann als "unredlich". Sie versprach transparente Aufklärung und einen weiteren Bericht der Innenrevision in der nächsten regulären Deputationssitzung am 9. März.