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Konflikt um Ausbildungsfonds Bremer Gewerkschaften: „Wir wollen die Hand reichen“

Die Bremer Wirtschaft kritisiert den geplanten Ausbildungsfonds. Ernesto Harder (DGB) und Barbara Schüll (GEW) schildern im Gespräch, was sie von der Kritik halten und warum der Fonds für sie unverzichtbar ist.
11.03.2023, 09:41 Uhr
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Bremer Gewerkschaften: „Wir wollen die Hand reichen“
Von Silke Hellwig

Frau Schüll, Herr Harder, Sie befürworten die Ausbildungsabgabe. Beeindruckt Sie der massive Protest der bremischen Wirtschaft?

Ernesto Harder: Nein – dass Arbeitgeber sich dagegen wehren, mehr für Ausbildung zu tun, kennen wir aus betrieblichen Konflikten und Tarifverhandlungen. Es gibt Ausnahmen – Arbeitgeber, die gerne und viel ausbilden. Eine Ausbildungsabgabe fordern wir seit vielen Jahren, auch der Prozess zu diesem Ausbildungsfonds läuft seit über zwei Jahren, und noch nie waren die Arbeitgeber für eine Ausbildungsabgabe.

Müsste man nicht den Schulterschluss mit der Wirtschaft suchen statt sie gegen sich aufzubringen?

Harder: Wir wollen uns auf den Kulturkampf, den die Arbeitgeber vom Zaun brechen, auch gar nicht einlassen. Wir wollen ihnen die Hand reichen und den Fonds gemeinsam gestalten. Wir lassen auch über Nachbesserungen mit uns reden. Das ändert aber nichts daran, dass sie besondere Verantwortung tragen und sich finanziell beteiligen müssen. Wir haben die Arbeitgeberseite eingeladen, den Entwurf zum Ausbildungsfonds mitzugestalten. Das hat sie letztes Jahr verweigert.

Was sagen Sie zu den „schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ des Gutachters, den die Handelskammer engagiert hat?

Harder: Es gibt ein Rechtsgutachten von vergangenem Jahr, das das Wirtschaftsressort in Auftrag gegeben hat. Die Autoren – die übrigens nicht nur einer Seite, sondern sowohl Arbeitgebern als auch Gewerkschaften nahestanden – kamen zu dem Ergebnis, dass der Ausbildungsfonds im Rahmen der Möglichkeiten eines Bundeslandes rechtlich unbedenklich ist. Auf dieser Grundlage ist das Gesetz entstanden.

Viele Betriebe finden offenbar keine geeigneten Kandidaten.

Harder: Letzten Monat wurden an einer Schule mehr als 100 Betriebe eingeladen, ihre Arbeit zu präsentieren, um den Nachwuchs für sich zu interessieren. Von diesen 100 Betrieben haben zwölf zugesagt, drei haben unentschuldigt gefehlt, neun sind gekommen. 

Es gibt eigene Anstrengungen – auf Firmenfahrzeugen wird geworben, in Medien aller Art. Die Wirtschaftsjunioren haben darauf hingewiesen, dass sie mit „Weser-Jobs“ eine der größten Bremer Bildungsmessen veranstalten, um Azubis zu finden.

Harder: Keine Frage, das ist lobenswert. Aber es reicht eben nicht, wie man an den Zahlen sieht.

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Viele Unternehmen haben doch selbst Interesse an Nachwuchs, um ihren Betrieb erhalten zu können. Hunderte Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Ein Ausbildungsfonds hätte vor 20 Jahren Sinn gemacht.

Harder: Wir Gewerkschaften setzen uns seit Jahrzehnten für mehr Ausbildungsplätze und eine Ausbildungsumlage ein. Und auch heute gibt es immer noch mehr Bewerberinnen und Bewerber als Ausbildungsplätze: In Bremen kommen auf 100 Interessierte nur 72,1 Ausbildungsplätze.

Bildet der DGB Bremen aus?

Harder: Der DGB-Bezirk Niedersachsen-Bremen bildet gemeinsam mit unserem Bildungswerk Arbeit und Leben aus. Aber wenn wir in den Fonds einzahlen müssen, tun wir das gerne und voller Überzeugung.

Warum wird der Fonds nicht aus Steuern finanziert?

Harder: Die Ausbildung gehört in den Betrieb. Wir springen als Gewerkschaft schon über unseren Schatten, wenn wir uns für außerbetriebliche Ausbildungsplätze einsetzen. Die Bedingung ist, dass Unternehmen dafür gefälligst auch zahlen. Die gesellschaftliche Verantwortung für die duale Ausbildung liegt vor allem bei den Arbeitgebern.

Die Verantwortung für die Bildungsqualität liegt beim Staat. In Bremen verlässt jeder Zehnte die Schule ohne Abschluss – nicht die besten Voraussetzungen für eine Ausbildung.

Harder: Das stimmt und das kritisieren auch wir. Das Bildungsversprechen muss eingehalten werden, keine Frage. Aber es ist Heuchelei, den Rückgang der Ausbildungsplätze allein darauf zurückzuführen. Die Zahl der Plätze sinkt bundesweit, auch dort, wo die Quote derer, die ohne Abschluss von der Schule gehen, viel niedriger ist als in Bremen.

Barbara Schüll: Die Schulen leiden unter dem Fachkräftemangel und selbst unter zu wenig Nachwuchs. Wir Lehrerinnen und Lehrer leisten an den Schulen, was wir können. Wir dürfen die jungen Menschen nicht im Stich lassen, die die Schule bedauerlicherweise ohne Abschluss verlassen. Im Gegenteil, sie brauchen besondere Unterstützung – durch Programme, die aus dem Ausbildungsfonds finanziert werden. Vor dieser Verantwortung können wir uns nicht drücken.

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Wäre es nicht besser, das Bildungssystem so verändern, dass es weniger junge Menschen gibt, die die Schule ohne Abschluss verlassen?

Schüll: Selbstverständlich. Wir fordern auch, dass deutlich mehr für die Ausstattung der Schulen getan wird. Uns fällt jetzt auf die Füße, was schon vor Jahren entschieden wurde, ohne dass man damals die Folgen absehen konnte. Es ist also müßig, darüber zu streiten, wer die Lage zu verantworten hat. Es geht darum, sich ihr zu stellen und sich um die jungen Menschen zu bemühen, die aktuell ohne einen Ausbildungsplatz sind. 

Wurde dazu nicht die Jugendberufsagentur geschaffen?

Harder: Die Jugendberufsagentur ist großartig. Andere Bundesländer wünschen sich eine solche Einrichtung. Aber die Bemühungen der Agentur reichen offensichtlich nicht aus. Die Jugendberufsagentur hat zur Aufgabe, Jugendliche beim Übergang von Schule zur Berufsausbildung zu begleiten. Sie überwindet die Gräben zwischen Schule und Bundesagentur für Arbeit und Jobcenter. Andernorts kommunizieren diese Ebenen nicht miteinander. Der Ausbildungsfonds hat ein anderes Ziel: Er soll die außerbetriebliche Ausbildung, die Modernisierung der dualen Ausbildung im Sinne der Transformation finanzieren und weitere Programme, um Jugendlichen in die und bei der Ausbildung zu helfen. Natürlich soll der Fonds außerdem insbesondere kleinere Betriebe mit der Rückvergütung dafür belohnen, dass sie ausbilden.

Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt hat 2021 festgestellt, dass die Jugendberufsagentur nicht auffangen könne, wenn jungen Menschen eine Ausbildung unattraktiv erscheint, weil sie mit ungelernten Tätigkeiten mehr Geld verdienen können. Dafür sollen Unternehmen bestraft werden?

Harder: Zum einen gibt es einen Wandel in der Bundesagentur für Arbeit. Während Kunden früher stärker in Arbeit beraten wurden, werden sie inzwischen gezielter in Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramme begleitet. Zum anderen ist der Fonds alles andere als ein Bestrafungsinstrument, sondern das Gegenteil: Er sorgt für mehr qualifizierten Nachwuchs, im Interesse der Gesellschaft und der Wirtschaft. Wie das Geld konkret verwendet wird, darüber entscheiden die Unternehmen und Gewerkschaften gemeinsam. Auf keinen Fall darf er öffentliche Aufgaben finanzieren.

Etwa ein Viertel der Azubis bricht die Ausbildung ab, etwa jeder zwölfte Azubi rauscht durch die Prüfung. Spricht das nicht dagegen, Betriebe zum Ausbilden zu zwingen?

Schüll: Ähnliche Quoten gibt es bei Studierenden. Auch diese Menschen müssen wir qualifizieren. Die Idee zum Ausbildungsfonds ist genau vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten entstanden: Es fehlt an Fachkräften, es gibt junge Menschen, die nicht qualifiziert sind. Wir müssen tun, was wir können, um für ihre Qualifizierung zu sorgen.

Warum kann man Betrieben, die nachweisen, dass sie – vergebens – alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um einen Azubi zu finden, die Abgabe nicht erlassen?

Harder: Das würde einen ungeheuren Aufwand für die Unternehmen und Behörden nach sich ziehen. Die Unternehmen beklagen sich ja jetzt schon, dass sie Mehrarbeit damit hätten, ihre Bruttolohnsumme zur Berechnung der Abgabe anzugeben. Auch würde der Gedanke der Umverteilung verloren gehen: Kleinere Betriebe werden aus dem Fonds mehr zurückerhalten als einzahlen, sofern sie ausbilden. Ausbildende Betriebe werden belohnt und nicht ausbildende Betriebe eben nicht. Wir als Gewerkschaften haben allerdings dafür plädiert, dass man Kleinbetrieben die Entscheidung überlässt, ob sie sich am Fonds beteiligen. So ähnlich ist es auch im Gesetz vorgesehen. Sie können beantragen, freigestellt zu werden.

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Sie suchen den Dialog mit den Unternehmen, suchen Sie auch einen Kompromiss? Jeder Euro aus einem Unternehmen könnte beispielsweise durch mit einen staatlichen Euro ergänzt werden.

Harder: Wenn diese Forderung von den Unternehmen käme, würden wir uns nicht dagegenstellen. Aber die Unternehmen lehnen den Fonds kategorisch ab. Im Übrigen zahlt die öffentliche Hand auch in den Fonds ein als Ausbildungsbetrieb.

Vielleicht ist Bremens Wirtschaft skeptisch, weil 2018 und 2019 der Gewerbesteuer-Hebesatz mit der Begründung erhöht wurde, vor allem Bildungsausgaben zu finanzieren. Niemand weiß, inwiefern sich das gelohnt hat.

Harder: Wenn es diese Kopplung von Steuern und Ausgaben gab, könnte ich das verstehen. Man muss natürlich überprüfen, wie das Geld verwendet wird und sich die Ergebnisse ansehen. Das tun wir auch.

Wann wird man sehen, ob so gut wie jeder junge Bremer und jede junge Bremerin einen Ausbildungsplatz bekommt, wenn er möchte?

Harder: Das lässt sich schlecht sagen. Ich bin mir sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis andere Bundesländer dem Bremer Beispiel folgen werden.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

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