Nachdem der Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein Anfang der Woche erstmals in seiner bislang dreijährigen Amtszeit eine formale Rüge wegen einer Baugenehmigung für ein Gebäude im Tabakquartier ausgesprochen hat (wie berichtet), erweitert jetzt sein langjähriger Amtsvorgänger Joachim Steinbrück die Kritik an der Baubehörde. „Bei dem gesamten Quartier bekommt man den Eindruck, das Thema Barrierefreiheit ist in den Planungen halbherzig oder auch gar nicht angegangen worden.“
Steinbrück stützt sich für dieses Urteil auf die Befunde von zwei Ortsbegehungen im November 2022 und im Februar 2023 des Forums Barrierefreies Bremen (FBB), als dessen Sprecher der Jurist und ehemalige Richter fungiert. Das FBB ist ein Zusammenschluss von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen aus verschiedenen Behindertenverbänden, das sich seit den 1980er-Jahren für die Barrierefreiheit in Bremen engagiert.
Moniert wird von dem Forum unter anderem, dass viele Wege in dem Quartier aus altem Großpflaster bestehen, das mit einem Rollstuhl oder Rollator kaum oder nur schwer befahrbar ist. „Wenn man Furten aus glattem Material einbaut, ist eine barrierefreie Nutzung möglich, zugleich bleibt so das historische Gesamtbild erhalten“, sagt Steinbrück. Auch finden sich gut gemeinte Orientierungshilfen für blinde Menschen wie zum Beispiel bei den Bremer Philharmonikern, die aber „im Nichts enden und beginnen“. Ein weiterer Kritikpunkt: Für Rollstuhlfahrer wurden mehrfach Hublifte eingebaut anstelle von Rampen. Das betreffe etwa das Restaurant Justus und sogar eine Einrichtung des Martinshof Bremen, also eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.
„Das erinnert wirklich an einen Schildbürgerstreich“, meint Steinbrück. Denn Hublifte erfüllten nicht die rechtlichen Anforderungen an eine barrierefreie Gestaltung, da sie für Personen mit Rollstuhl oder Rollator keinen selbstständigen Zugang zu einem Gebäude in der allgemein üblichen Weise und ohne fremde Hilfe ermöglichen. „Für jemanden, der beispielsweise mit seinem Rollstuhl vor dem Restaurant Justus steht, ist nicht zu erkennen, wie er dafür sorgen kann, dass der mit einem Schlüssel abgesicherte Hublift für ihn freigeschaltet wird“, erklärt er. Es gebe weder eine Klingel noch einen anderen Hinweis darauf, wie jemand aus dem Restaurant dazu veranlasst werden könne, den Hublift in Gang zu setzen.
Die Entscheidung für einen Hublift statt einer Rampe bei dem künftigen Aus- und Fortbildungszentrum des Finanzsenators im Tabakquartier ist auch der Grund für die offizielle Rüge des Landesbehindertenbeauftragten. Frankenstein hatte im Dezember 2022 im Vorfeld darauf hingewiesen, dass eine Genehmigung rechtswidrig wäre, die Baugenehmigung wurde trotzdem im März 2023 erteilt.
Das Bauressort verweist auf die prinzipiell schwierigen Rahmenbedingungen. Der Ort sei ein „Quartier im Entstehen“ mit einem umfangreichen historischen Gebäudebestand. „Insbesondere stellt der Umbau der ehemaligen Tabakspeicher, die in einem eng bebauten ehemaligen Fabrikareal stehen, durch Höhenunterschiede und enge Raumsituationen eine besondere Schwierigkeit dar“, sagt Jan Scheve, Referatsleiter im Bauressort.
Steinbrück will das nicht gelten lassen. „Die Landesbauordnung verlangt, öffentlich zugängliche Gebäude sowie nicht öffentlich zugängliche Büro- und Verwaltungsgebäude mit einer Nutzfläche ab 500 Quadratmetern barrierefrei zu gestalten.“ Dies gelte nicht nur für Neubauten, sondern grundsätzlich auch für Nutzungsänderungen älterer Gebäude. Er verweist zudem auf gut gelungene Lösungen in Sachen Barrierefreiheit an gleicher Stelle, etwa das Boulevardtheater. Auch bei dem Bau für die Bremer Philharmoniker sei zunächst ein Hublift angelegt worden. Nach der Beschwerde eines behinderten Musikers wurde nachträglich doch noch eine Rampe installiert. Das zeige, dass Lösungen auch im historischen Gebäudebestand machbar sind.
Bausenatorin reagiert auf Kritik und lädt zu Treffen ein
Das Bauressort reagiert nun auf die Rüge des Behindertenbeauftragten und die am Dienstag in einem langen Schreiben übermittelten Kritikpunkte aus den Ortsbegehungen des FBB mit einer Art Rundem Tisch. Die neue Senatorin für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung Özlem Ünsal (SPD) habe für diesen Donnerstag zu einem Treffen eingeladen. „Neben der Baubehörde, dem Landesbehindertenbeauftragten und Vertretern der Eigentümer haben wir kurzfristig auch die Vertreter des Forums Barrierefreies Bremen dazu gebeten“, sagt Scheve.
Steinbrück freut sich über diese prompte Reaktion des Bauressorts und hofft auf Lösungen. „Wenn wir allerdings nur Rechtsauffassungen über die Anwendung der Landesbauordnung austauschen, werden wir als FBB den Behindertenverbänden empfehlen, wegen der Barrieren im Tabakquartier ein Schlichtungsverfahren nach dem Bremischen Behindertengleichstellungsgesetz einzuleiten.“ Sollte das scheitern, bliebe noch eine Verbandsklage vor dem Verwaltungsgericht.