Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Bürgerschaftswahl in Bremen Welche Kandidaten ohne guten Listenplatz viele Stimmen geholt haben

Das Muster gleicht sich: Bei SPD, CDU, Grünen und Linken haben Kandidaten den Einzug in die Bürgerschaft geschafft, die keinen aussichtsreichen Listenplatz hatten. Nicht allen gefällt das.
27.05.2023, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Felix Wendler Frank Hethey

Die Bremische Bürgerschaft wird in der kommenden Legislaturperiode verstärkt mit Abgeordneten besetzt sein, die ihren Einzug über Personenstimmen geschafft haben. Erneut im Parlament vertreten sind zum Beispiel Mehmet Ali Seyrek und Elombo Bolayela (beide SPD). Seyrek konnte dabei mehr Stimmen für sich gewinnen als Fraktionschef Mustafa Güngör, Bolayela erhielt innerhalb der SPD die drittmeisten Personenstimmen. Beide sind seit 2011 Abgeordnete der Bürgerschaft, beide hatten von ihrer Partei auch in diesem Jahr aussichtslose Listenplätze (33 und 35) zugewiesen bekommen. Auch die Parlamentsneulinge Medine Yildiz (Listenplatz 46) und Basem Khan (Listenplatz 37) wären ohne eine Vielzahl von Personenstimmen chancenlos gewesen.

Unmut in der SPD über Personenstimmen

Dass die Partei zunehmend weniger Einfluss darauf hat, wer sie in der Bürgerschaft vertritt, kommt nicht überall gut an. Peter Sakuth, der als Vorsitzender einer Mandatskommission maßgeblich an der SPD-Kandidatenliste mitgewirkt hat, regt eine Grundsatzdebatte über das Wahlrecht an. "Vor Jahren ist eine Wahlrechtsreform durchgesetzt worden. Jetzt ist es an der Zeit, offen darüber zu sprechen, ob der erwartete Erfolg eingetroffen ist", sagt der ehemalige Bremer Innensenator. Man müsse dieses Gespräch mit allen Parteien führen.

Lesen Sie auch

Der Unmut in Teilen der SPD über die Mandatsverteilung hängt auch mit Erfahrungen aus der Vergangenheit zusammen. Kandidaten mit aussichtslosen Listenplätzen, die über Personenstimmen ins Parlament einziehen, bleiben dort oft eher unauffällig. Die individuelle parlamentarische Arbeit ist anhand von Protokollen und Archiven gut nachvollziehbar.

Unauffällige Abgeordnete

Mehmet Ali Seyrek, Fraktionssprecher für Antidiskriminierung, hat demnach in den vergangenen vier Jahren zwei Reden in der Bürgerschaft gehalten. Auch in den beiden vorangegangenen Legislaturperioden waren es jeweils zwei Debattenbeiträge. Zwischen Mai 2013 und Mai 2018 wird Seyrek fünf Jahre lang nicht als Redner gelistet. In den städtischen Deputationen für Inneres und Gesundheit ist er als Mitglied zwar regelmäßig anwesend, beteiligt sich aber so gut wie nie an Diskussionen. Anträge und Vorlagen mit seinem Namen finden sich kaum. Elombo Bolayela tritt ebenfalls eher selten als Redner in Erscheinung – er kommt den Unterlagen zufolge auf etwa 20 Beiträge in zwölf Jahren. Insgesamt (auch in Form von Zwischenrufen) ist er aktiver als Seyrek, aber im Vergleich zu vielen Fraktionskollegen bleibt sein Wirken überschaubar.

Lesen Sie auch

Schlecht gelistet, aber präsent

Dass in einer vergleichsweise großen Fraktion nicht alle Abgeordneten gleich präsent sind, ist keine Besonderheit. Innen- oder baupolitische Sprecher wie Kevin Lenkeit und Falk Wagner kommen naturgemäß auf mehr Redezeit als der Kulturpolitiker Bolayela. Andererseits ist zum Beispiel die Grünen-Politikerin Kai Wargalla in gleicher Funktion deutlich sichtbarer als ihr SPD-Kollege Bolayela. Schlecht gelistete Kandidaten, die über Personenstimmen in die Bürgerschaft einziehen, bleiben zudem nicht zwangsläufig im Hintergrund. Ein Beispiel innerhalb der SPD ist Jasmina Heritani, die 2019 auf Listenplatz 39 angetreten war, sich aber in den vergangenen vier Jahren durchaus auf der politischen Bühne gezeigt hat – auf ihrem Konto stehen 16 Reden in der Bürgerschaft; auch Anträge brachte sie regelmäßig ein. In diesem Jahr hatte sich Heritani nicht wieder zur Wahl gestellt.

Welche Funktionen die neuen Abgeordneten in der SPD-Fraktion übernehmen werden, ist laut Fraktionssprecher Andreas Reißig noch offen. Basem Khan, Kfz-Meister und Vorstandsmitglied der Handwerkskammer, hatte im Wahlkampf vor allem mit wirtschaftspolitischen Themen für sich geworben. Die frühere Linken-Politikerin Medine Yildiz sieht ihre Schwerpunkte einem Wahlkampfflyer zufolge in den Bereichen Gleichstellung, Klimaschutz, Bildung und Lohngerechtigkeit. Yildiz ist zudem seit vielen Jahren als Gewerkschafterin aktiv.

Lesen Sie auch

Der Abräumer bei der CDU: Oguzhan Yazici

Bei der CDU hat Oguzhan Yazici für einen Paukenschlag gesorgt. Wie vor vier Jahren stand er auch diesmal auf dem aussichtslosen Listenplatz 25. Doch über die Personenstimmen schaffte der promovierte Jurist abermals den Einzug in die Bürgerschaft. Und das mit einem überwältigenden Ergebnis: Mit 5838 Stimmen landete der 45-Jährige auf dem dritten Platz hinter dem Spitzenduo Frank Imhoff und Wiebke Winter. Gegenüber 2019 konnte der Sohn türkischer Zuwanderer noch einmal kräftig zulegen, als „Obama von der Weser“ bejubelte ihn ein Anhänger auf Instagram. „Er hat einen Superwahlkampf gemacht“, lobt CDU-Vize Jens Eckhoff. Besonders der gemeinsame Auftritt Yazicis mit dem früheren Bundespräsidenten Christian Wulff hat ihn beeindruckt.

Seit knapp zehn Jahren gehört Yazici der Bürgerschaft an. Bei der Wahl 2011 knapp gescheitert, kam er im Oktober 2013 als Nachrücker für die nach Berlin abgewanderte Elisabeth Motschmann ins Landesparlament. Seine erste Rede hielt er im September 2014. Sieben weitere folgten bis Februar 2015. In der nachfolgenden Legislaturperiode von 2015 bis 2019 legte er 28 Mal den Gang zum Rednerpult zurück. Danach wurde es ruhiger um ihn, in der laufenden Legislaturperiode ergriff der Sprecher für Recht, Datenschutz, Informationsfreiheit und Petitionen sieben Mal das Wort, zuletzt im Juni 2022 bei einer Glücksspiel-Debatte. "Ich arbeite gerne in meinem Bereich, er wirft nur vergleichsweise wenig Debatten aus", sagt Yazici dazu. "Wir haben uns im Ausschuss in der Sache gestritten, am Ende jedoch ohne Debatte geeinigt." 

Lesen Sie auch

Rückhalt von der Parteispitze

Sein Parteifreund Eckhoff meint: „Oguzhan Yazici tut sich an der einen oder anderen Stelle mit Parteiarbeit manchmal etwas schwer.“ Gleichwohl habe Yazici die Gabe, seine Wählerschaft zu motivieren. Das machte der CDU-Mann nicht zuletzt mit großformatigen Anzeigen in der türkischsprachigen Zeitung Post Aktüel Bremen – nicht anders als seine SPD-Konkurrenten Güngör, Recai Aytas, Nurtekin Tepe oder Muhammet Tokmak. „Menschen mit Migrationshintergrund haben oft eine Community, die sie gut unterstützt.“ Und das sei völlig in Ordnung, die Partei wolle mehr Teilhabe aus diesem Bereich. „Personenstimmen sind eine Riesenchance, Communities mit einzubinden“, sagt Eckhoff. „Gäbe es keine Personenstimmen, müsste man über eine Migrationsquote nachdenken.“

Deshalb sieht der Parteivize auch keinen Anlass, am jetzigen Modell zu rütteln. „Es ist eine vernünftige Abwägung zwischen Parteiinteressen und den Interessen der Menschen draußen.“ Die mäßige Listenplatzierung Yazicis will Eckhoff nicht als mangelnden Rückhalt in der Partei verstanden wissen – die Partei habe ihn im Wahlkampf unterstützt. „Je mehr Stimmen er bekommt, desto mehr Stimmen erhält die CDU.“ In seinen Augen kann ein schlechterer Listenplatz sogar den Ehrgeiz anstacheln. 

Lesen Sie auch

Die Wargalla-Community bei den Grünen

Bei den Grünen räumte Kai Wargalla ab. Auf Platz 14 gesetzt, hatte die Parteilinke keine reelle Chance auf einen Einzug über die Liste. Das wusste die 38-Jährige sehr gut und setzte deshalb von Anfang an auf die Unterstützung ihrer Community. Eine Woche vor der Wahl erklärte sie in den sozialen Netzwerken, „ohne enorm viele Personenstimmen bin ich raus“. Mit dem Ergebnis von 4953 Stimmen hatte sie offenbar selbst nicht gerechnet. „Leute what?! Ihr habt mich auf Platz zwei (!) gewählt! Zwischen Spitzenkandidatin und Senatorin“ – soll heißen: hinter Maike Schaefer und vor Anja Stahmann. Wargallas Fazit: „Ihr habt mich persönlich ins Parlament gewählt. Ohne euch wär‘ ich raus.“

Wargalla kam im September 2016 als Nachrückerin ins Parlament. Bis zu ihrer ersten Rede verging mehr als ein Jahr, doch seither hat die Vorsitzende der Deputation für Kultur kräftig nachgelegt. Auf der Grünen-Liste machte sich das indessen nicht bemerkbar. Bei der Kandidatenkür 2019 reichte es nur für den 15. Platz, schon damals holte sie aber die drittmeisten Personenstimmen der Grünen-Kandidaten.  

Lesen Sie auch

Die Topleute bei den Linken

Das gleiche Muster auch bei den Linken. Eine schlechte oder zumindest unsichere Platzierung auf der Liste lässt sich mit Personenstimmen wettmachen. So geschehen bei Cindi Tuncel, seit 2011 in der Bürgerschaft. Der 46-Jährige stand auf dem zwölften Listenplatz, erhielt aber nach den beiden Senatorinnen Kristina Vogt und Claudia Bernhard die drittmeisten Stimmen. Als Redner ist Tuncel relativ häufig am Pult. Ähnlich erfolgreich wie der gebürtige Jeside war der als „Jugendkandidat“ angetretene Dariush Hassanpour auf Platz 10. Der 26-jährige Newcomer rauschte mit den viertmeisten Stimmen in die Bürgerschaft. Seine Hochburgen: die Östliche Vorstadt und die Neustadt.

Zur Sache

Fast die Hälfte der Kandidaten direkt gewählt

Nach derzeitigem Stand nehmen direkt gewählte Kandidaten im neuen Landtag fast die Hälfte der Sitze ein. Wie viele Mandate über Parteistimmen und wie viele über Personenstimmen vergeben werden, hängt vom Wahlverhalten der Bremer und Bremerinnen ab. Das Gesamtergebnis setzt sich zunächst aus allen Stimmen zusammen, die für eine Partei und die dazugehörigen Kandidaten abgegeben wurden. Die Partei profitiert also auch insgesamt von vielen Personenstimmen. Das Gesamtergebnis bestimmt, wie viele Sitze der Partei in der Bürgerschaft zustehen.

Wer die Sitze einnehmen darf, wird im Anschluss aus dem Verhältnis von Personen- und Parteistimmen ermittelt. Kann eine Partei beispielsweise 60.000 Stimmen für sich und 40.000 Stimmen für die einzelnen Kandidaten erzielen, werden 40 Prozent der Mandate über Personenstimmen und 60 Prozent über die Listenplätze vergeben. Geht man von zehn Sitzen insgesamt aus, ziehen die vier Kandidaten mit den meisten Personenstimmen ins Parlament ein. Die weiteren sechs Plätze erhalten die Kandidaten, die auf der Liste am weitesten oben platziert sind. Personenstimmen haben bei der Vergabe Vorrang. Heißt: Spitzenkandidaten mit einem guten Listenplatz ziehen in aller Regel über die Personenstimmen ein. 

Bei der SPD machten Personenstimmen im Land Bremen 60 Prozent des Gesamtstimmenaufkommens aus – einen großen Teil davon konnte Bürgermeister Andreas Bovenschulte verbuchen. Dem Wahlrecht entsprechend werden deshalb 17 von 27 Sitzen über den Personenstimmenanteil besetzt. Nicht ganz so drastisch ist das Verhältnis bei der CDU: Zehn Kandidaten ziehen mithilfe der Personenstimmen ins Parlament ein, 14 kommen über die Liste. Bei den Grünen, der FDP und den Bürgern in Wut überwiegen die Listenkandidaten ebenfalls; bei den Linken ist das Verhältnis ausgeglichen.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)