Unten, zwei Stockwerke tiefer, geht ein Segler mit seinem Sohn am Glaswürfel des Havenkontors vorbei. Sigrid Leichsenring hat die beiden schon erwartet, wenn auch etwas später. Sie öffnet das Fenster ihres Büros und ruft ihnen ein freundliches „Ahoi“ zu. „Möchtet ihr vielleicht ein bisschen früher raus?“ So etwa in zehn Minuten wäre gut, antwortet der Mann. Kein Problem für Leichsenring. „Spätestens um 10 Uhr müssen die raus, sonst läuft den beiden das Wasser weg“, erklärt die Hafenmeisterin.
Kurz darauf öffnet die 61-Jährige eine Klappe am Antriebshaus der Fußgängerbrücke, die sich über die Ein- und Ausfahrt des Vegesacker Hafens spannt. Dahinter verbirgt sich ein Tastenfeld für die elektronische Steuerung der Klappbrücke. Leichsenring tippt ihren Benutzernamen und ein Kennwort ein, ein Bimmeln ertönt und die erste Schranke der Brücke senkt sich hinab. „Jetzt hat jeder auf der Brücke noch genug Zeit, rüber zu gehen.“
Eine letzte Sichtkontrolle. Niemand mehr auf der Brücke? Erst dann wird die zweite Schranke geschlossen und der innere Mechanismus der Brücke in Gang gesetzt. Ein integriertes Gegengewicht klappt die eine Hälfte der 42 Meter langen Überquerung auf, bis sie fast senkrecht steht. „Das ist schon eine sehr raffinierte Konstruktion“, sagt Leichsenring und kommt regelrecht ins Schwärmen. „Ich finde diese Brücke einfach schön. Diese Leichtigkeit. Durch die Lochbleche erscheint sie fast transparent. Und alles in harmonisch geschwungenen Linien ...“
Tide bestimmt den Dienstplan
Kurz darauf tuckert die „Mien Wicht“ durch die geöffnete Brücke in Richtung Weser. Vater und Sohn winken vom Deck des kleinen Plattbodenschiffs. „Schönen Dank für alles.“ Sigrid Leichsenring winkt zurück. „Tschüss. Kommt mal wieder.“ Die Brücke für ein- und auslaufende Boote zu öffnen, ist die wichtigste Aufgabe der Hafenmeisterin. „In guten Jahren komm‘ ich auf 700 Brückenöffnungen“, sagt sie und bedient den Schließmechanismus.
Der Vegesacker Hafen ist ein Tidenhafen. Alles richtet sich hier nach dem Wasser. Auch der Dienstplan von Sigrid Leichsenring. Ihr gefällt das. „Das ist irgendwie naturverbunden.“ Vor 20 Jahren, als sie offiziell ihren Dienst als Hafenmeisterin antrat, war eine ihrer ersten Amtshandlungen, die bis dahin geltenden offiziellen Zeiten für das Öffnen und Schließen der Brücke abzuschaffen. „Feste Zeiten gehen am Bedarf vorbei“, erklärt sie. „Der Hauptbetrieb ist zu den Hochwasserzeiten. Da setzen sich die Segler gerne auf die Strömung drauf.“
Meistens öffnet sie die Brücke auf Wunsch. Die Telefonnummer hängt aus. „Ruft mich einfach an, dann schaue ich, was ich tun kann“, lautet ihre Devise. „Na ja“, schiebt sie eine kleine Einschränkung hinterher, „sagen wir zwischen 7 und 22 Uhr.“ Und wenn sie ein paarmal im Jahr um eine Ausnahme gebeten wird, geht auch das klar.
In der Regel erfolge dies alles ohnehin nach Absprache. „Ich spreche ja mit den Leuten, wenn sie ankommen. Wie lange sie bleiben, was sie vorhaben.“ Gerade Letzteres ein wichtiger Punkt für ihre Arbeit. Der Platz in dem kleinen Hafen mit seinen rund 360 Metern Steglänge ist begrenzt. Da will gerade bei Anlässen wie jüngst den „Maritimen Tagen“ mit knapp 50 Gastschiffen gut überlegt sein, wer wo mit wem und an welcher Stelle im Päckchen vertäut wird. „Ich nenne das ‚Schiffe-Tetris‘. Wie ein Puzzle, das jeden Tag neu zusammengesetzt wird.“
Zentrale Aufgabe der Hafenmeisterin ist es, sich um die Gäste zu kümmern: Trinkwasser und Elektrizität an den Stegen, der Pin für die sanitären Anlagen und natürlich die Dokumentation der Verbräuche sowie das Kassieren der Liegegelder (im Schnitt ein Euro pro Nacht und Meter plus Verbrauchskosten). Aber auch die technische Überwachung des Hafens fällt in ihren Arbeitsbereich. Nicht zu vergessen die Organisation von Festivitäten in Kooperation mit den Veranstaltern. Und dann ist da natürlich die Sauberkeit des Hafenbeckens. „Ich kümmere mich um alles, was hier so reingespült wird.“ Letzte Nacht war es ein mittelgroßer Baum. Den haben ihr zwar inzwischen andere auf die Mole gehievt. „Aber raten Sie mal, wer den gleich zersägt?“
Es ist gerade diese Vielseitigkeit, die Sigrid Leichsenring an ihrer Arbeit mag, die sie im Auftrag der Wirtschaftsförderung Bremen mit einer Dreiviertelstelle erfüllt. „Es wird nie langweilig hier, das ist eine ganz große Qualität meines Berufs.“ Nahezu autark arbeiten zu können, ist eine andere.
Beruflich kommt die 61-Jährige ursprünglich aus der Gastronomie. Zugleich aber auch aus einer Familie, die stets die Nähe zum Meer pflegte. Ihr Opa war Fischer auf dem Kurischen Haff, ihr Vater Freizeitkapitän auf einem umgebauten dänischen Krabbenkutter, ihre Brüder wassersportbegeistert. Diese Tradition hat sie fortgesetzt. Schon lange vor ihrer offiziellen Anstellung, auf vielfache Weise und immer im Umfeld des Vegesacker Hafens. Als Bootsbauhelferin in einer Werft, um nur ein Beispiel zu nennen.
Typische Männerdomänen
Wenn sie heute eine Brücke zu ihrer Arbeit in der Gastronomie schlägt – „hier kümmere ich mich auch um Gäste, das hat etwas Weibliches: sich kümmern, damit alle zufrieden sind“ –, dann tut sie dies mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die weiß, dass sie ihren Weg in Bereichen gemacht hat, die als typische Männerdomänen galten. Wobei ihr Job nicht mit dem eines Hafenmeisters in einem großen Gewerbehafen zu vergleichen sei, betont Leichsenring. „Wir sind so etwas wie ein Vereins- oder Privathafen. Das, was ich hier mache, ist kein Ausbildungsberuf.“
Dafür, und da ist sie sich ganz sicher, hat sie das schönste Büro in ganz Vegesack. Ihr Reich ist die obere Etage des zweistöckigen Glaswürfels direkt an der Fußgängerbrücke. Alle Wände aus Glas, an sonnigen Tagen wie diesem lichtdurchflutet, der Schreibtisch mit direktem Blick aufs Hafenbecken. Und aufs Wasser, dessen Rhythmus und Zuverlässigkeit zu bestimmenden Größen in ihrem Leben wurden. „Auf das Wasser kann man sich verlassen, das ist immer pünktlich.“