Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Internationaler Hurentag Was eine Bremerin in ihrem Alltag als Sexarbeiterin erlebt

Warum entscheidet sich man für den Beruf der Sexarbeiterin? Viele Frauen haben keine andere Wahl, manche entscheiden sich bewusst. Eine Bremerin berichtet.
02.06.2023, 05:15 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Was eine Bremerin in ihrem Alltag als Sexarbeiterin erlebt
Von Kristin Hermann

Michelle Hoffmann* kann sich noch genau an das Treffen mit ihrem ersten Kunden erinnern. Sie sollte zu ihm nach Hause kommen, sagt sie. Im Flur und Wohnzimmer hingen jede Menge Fotos, auf denen der Mann mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in die Kamera lächelt. In dieser Kulisse sollte Hoffmann wenig später Sex mit dem Familien­vater haben. „In meinem früheren Leben hätte ich gedacht, was für ein Schwein“, sagt sie. „Mittlerweile ist das für mich alltäglich geworden.“

Hoffmann arbeitet als Prostituierte. Die Beweggründe, warum Männer die 30-Jährige aufsuchen, spielen für sie keine Rolle. Es gebe keine Vorwürfe oder gar Offenlegungen. Diskretion gehört zum Geschäft und ist der Bremerin auch selbst wichtig. Um ihre Privatsphäre zu schützen, will sie ihren richtigen Namen und ihr Arbeitspseudonym nicht öffentlich machen.

Lesen Sie auch

Warum entscheidet man sich als Frau ­dafür, den eigenen Körper gegen Geld an­zubieten? Bevor der Spaß hinzukam, stand für Hoffmann der finanzielle ­Anreiz im Vordergrund, sagt sie. Mit 20 macht sie eine Ausbildung in der Gastronomie und sucht nach einem Nebenjob, mit dem sie ihr Ausbildungsgehalt aufbessern kann und flexibel ist. Im Internet sei sie auf Seiten gestoßen, auf denen Frauen sich vor der Webcam ausziehen, während sie mit ihren Zuschauern chatten. „Der erste Auftritt war furchtbar. Ich hatte keine Ahnung, was die von mir wollen, und habe den Umgangston als völlig tabulos empfunden“, erinnert sie sich.

Finanzieller Anreiz

Doch das Verlangen nach dem schnellen Geld habe überwogen. Während sie in ihrem Gastrojob etwas mehr als den Mindestlohn pro Stunde verdiene, seien es dort mindestens 90 Euro. „Je älter und selbstsicherer ich wur­de, desto mehr Spaß hat es mir gemacht“, sagt sie. Ihren regulären Beruf übt sie dennoch zunächst weiter aus. „Ich habe insgesamt neun Jahre in der Gastro gearbeitet, war später sogar stellvertretende Restaurantleiterin.“ Gegangen sei sie letztlich, weil Ar­beitsaufwand und Gehalt unverhältnismäßig gewesen seien.

Den Schritt in die klassische Prostitution wagt Hoffmann vor gar nicht allzu langer Zeit. Anfang 2022 sei sie in einer schwierigen Lebensphase gewesen. „Sex gehörte zu den wenigen Dingen, die mir Freude bereitet haben“, sagt sie. Zwar könne man es nicht mit „privatem Geschlechtsverkehr“ vergleichen, doch sie habe Gefallen daran gefunden, für ihre Kunden in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen.

Lesen Sie auch

Ihre ersten Kunden besucht die 30-Jährige meist zu Hause. Für Sexarbeiterinnen ist ­dieser Weg durchaus mit Risiken verbunden, denn anders als etwa in Bordellen gibt es kein Personal, das im Notfall eingreifen kann. Ohne gewisse Vorkehrungen arbeite sie jedoch nicht, sagt die 30-Jährige. So teile sie etwa bei Hausbesuchen ihren Standort mit Vertrauenspersonen. „Einige Männer schicken mir vorher auch ihren Ausweis.“ Anonyme Anrufe nehme Hoffmann gar nicht erst an. Ernsthafte Probleme mit einem Gast habe sie bisher kaum gehabt. „Bis auf einmal, als ein Kunde ohne mein Wissen das Kondom entfernt hat. Da bin ich ausgerastet“, sagt sie.

Heute arbeitet die Bremerin zusätzlich in Bordellen, Nachtklubs oder in eigens dafür angemieteten Wohnungen. Gelegentlich biete sie ihre Dienste auch in anderen Städten an, erzählt sie. In welchen Etablissements genau sie tätig ist, will sie nicht verraten. „Die Auflagen, um ein Bordell zu eröffnen, sind relativ hoch. Es gibt viele Orte, die keine Genehmigung haben.“

Lesen Sie auch

Was sind das für Männer, die zu ihr kommen? „Vom Maler bis zum Anwalt ist alles dabei“, sagt sie. Singles, Verheiratete, Junge und Alte. „Manchmal bin ich aber auch einfach nur eine gut bezahlte Psychologin. Ich habe beispielsweise einen Gast, der nur mit mir spazieren gehen will.“ Wer Hoffmanns Dienste bucht, zahlt 120 Euro für eine halbe Stunde. Im Schnitt habe sie zwei Kunden pro Tag und verdiene zwischen 400 und 500 Euro. „Ich will mich nicht kaputtmachen und nehme mir zwischendurch bewusst Auszeiten“, sagt sie. Das können sich nicht alle Frauen leisten. Es gebe Kolleginnen, die zudem deutlich weniger Geld verlangen. „Einige nehmen Alkohol oder Drogen, um wach zu bleiben oder das auszuhalten“, sagt Hoffmann weiter.

Die Schattenseiten des Gewerbes

„Es gibt definitiv auch Schattenseiten in dem Beruf. Ich sehe Frauen aus Rumänien oder anderen Teilen Osteuropas, die von Stadt zu Stadt gekarrt werden und das machen, um ihre Familie im Heimatland zu ernähren“, sagt Hoffmann. Sie selbst wünsche sich einen offeneren Diskurs und mehr Informationen über ihr Berufsfeld, auch um Vorurteile abzubauen. „Zwangsprostitution ist sicherlich ein Thema, aber es gibt eben auch Frauen wie mich, die das aus freien Stücken machen und mit einem Stigma zu kämpfen haben.“

Lesen Sie auch

Ihr eigenes Umfeld wisse über ihren Job inzwischen größtenteils Bescheid. „Meinen Eltern habe ich es lange verschwiegen. Nicht, weil ich mich dafür geschämt habe, sondern weil ich sie schützen wollte“, sagt sie. Ihre Familie habe jedoch entspannter reagiert, als sie erwartet hätte. Auch ihr Ex-Partner habe ihren Beruf toleriert, solange sie sich entsprechend schütze. Damit müsse auch ein neuer Mann in ihrem Leben zurechtkommen. „Werde ich vor die Wahl gestellt, würde ich mich immer für mich selbst entscheiden“, sagt Hoffmann.


*Name von der Redaktion geändert. 

Zur Sache

Der Internationale Hurentag

Am Internationalen Hurentag wird an die Diskriminierung von Prostituierten und deren oftmals ausbeuterische Lebens- und Arbeitsbedingungen erinnert. Anfang der 1970er gerieten Prostituierte in Frankreich durch die Strafverfolgungsbehörden zunehmend unter Druck. Die polizeilichen Repressalien zwangen die Frauen, im Verborgenen zu arbeiten. Dadurch entfiel ihr Schutz durch die Öffentlichkeit und sie waren vermehrt Gewalttaten ausgesetzt. Nach zwei Morden und der fehlenden Bereitschaft der Regierung, die Situation der Prostituierten zu verbessern, besetzten am 2. Juni 1975 mehr als 100 Sexarbeiterinnen eine Kirche in Lyon und traten in den Streik. Nach acht Tagen wurde die Kirche von der Polizei geräumt. Das Ereignis wird als Start der Hurenbewegung angesehen.

Sexarbeiterinnen in Bremen

Wie viele Frauen in Bremen als Sexarbeiterinnen arbeiten, lässt sich schwer sagen. Nach Angaben der Wirtschaftsbehörde wurden bis Ende Mai 535 Anmeldebescheinigungen für Sexarbeitende ausgestellt. Daraus ließen sich jedoch kaum Rückschlüsse ziehen, denn mit der Anmeldung können die Frauen in der Regel bundesweit arbeiten. Die Beratungsstelle Nitribitt vermutet etwa 300 bis 350 Sexarbeitende in Bremen. Schätzungen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer in der Prostitution bundesweit sehr hoch ist.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)