Mit Datum vom 9. November 2022 erhielt Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) einen Brief aus Belgien. Genauer gesagt aus der Gemeinde Langemark-Poelkapelle, dem Schauplatz der viel beschworenen Schlacht bei Langemarck am 11. November 1914. Jener Schlacht des Ersten Weltkriegs, bei der junge deutsche Soldaten mit dem Deutschland-Lied auf den Lippen in den Tod gezogen sein sollen. Das Anliegen der Belgier: Eine Umbenennung der Langemarckstraße sei "weder notwendig noch erstrebenswert". Statt den Namen auszulöschen, schlagen die Belgier die Anbringung einer Plakette vor. Mit einem QR-Code, der einen Link zur Website der Gemeinde öffnet.
Was man in Belgien nicht wusste, als man den gleichlautenden Brief an alle deutschen Gemeinden aufsetzte, in denen es noch Langemarckstraßen gibt: In Bremen läuft gerade alles auf eine Umbenennung hinaus. Ebenso war man sich nicht im Klaren darüber, dass in Bremen die Stadtteilbeiräte über die Straßennamen befinden. Mitte Dezember hat der Beirat Neustadt auf Anregung der Georg-Elser-Initiative einstimmig beschlossen, die Langemarckstraße in Georg-Elser-Allee umzutaufen. Die Senatsvorlage sei bereits in Arbeit, sagt Jürgen Maly. Der Vorsitzende der Elser-Initiative ist optimistisch, den formalen Akt zum nächsten Jahrestag im November dieses Jahres über die Bühne zu bekommen.
Vom Anschreiben aus Belgien war nichts zu Maly durchgesickert. Ebenso wenig von der Bremer Antwortmail knapp zwei Monate später. Am 30. Dezember 2022 teilte die Senatskanzlei mit, es gebe gerade eine Diskussion um eine Umbenennung, der Beirat habe Empfehlungen ausgesprochen. Der Schlusssatz: "In diesem Kontext sollte das Ergebnis dieser Prozesse abgewartet werden, bevor wir auf ihr freundliches Angebot zurückkommen."
Angeregt wurde die belgische Langemarck-Initiative von einem wissenschaftlichen Beitrag im "Journal of Modern History" im März 2022. Zwei Historiker der University of Kent bei Canterbury im Südosten Englands, Mark Connelly und sein deutscher Kollege Stefan Goebel, präsentieren auf 41 Seiten neue Erkenntnisse zum Umgang mit dem Mythos Langemarck. Anders als beim originalen Ortsnamen ist in der deutschen Schreibweise ein "c" enthalten – vermutlich, um an Reichskanzler Otto von Bismarck anzuknüpfen.
Bremen spielt beim Langemarck-Gedenken eine prominente Rolle. Nicht nur, weil Bremen bundesweit die längste aller Langemarckstraßen hat und es sich im Gegensatz zu gleichnamigen Straßen andernorts um eine Hauptstraße handelt. Goebel attestiert Bremen eine Vorreiterrolle im kritischen Umgang mit dem Langemarck-Mythos. Denn: Das Denkmal vor der Hochschule wurde 1988 umgeworfen und nicht wieder aufgerichtet, auf diese Weise soll es eine Friedensbotschaft vermitteln. Seit 2020 ist es mit einer Infotafel versehen und reiht sich ein in die Denkorte der Bremer Neustadt.
Goebel gehört zu den drei Unterzeichnern des Briefs an Bovenschulte, neben einem Repräsentanten der Gemeinde Langemark-Poelkapelle und dem Leiter des Flanderns Fields Museum in Ypern. "Der Vorschlag, von einer Umbenennung abzusehen, mag erstaunlich klingen", sagt Goebel. Der Historiker gibt indes zu bedenken, es sei viel einfacher, sich ein positives Vorbild zu suchen als einer schwierigen Vergangenheit zu stellen. Damit ist vor allem die Vereinnahmung durch die Nazis gemeint. Zwar spielte die Glorifizierung des soldatischen Opfertods auch schon in Zeiten der Weimarer Republik eine Rolle, so richtig Fahrt nahm der Langemarck-Mythos aber erst nach 1933 auf. Ein Beispiel dafür ist die Bremer Langemarckstraße, die 1937 aus der Taufe gehoben wurde.
Mit der Anregung, am umstrittenen Straßennamen festzuhalten, verfolgen die Initiatoren allerdings noch ein anderes Ziel. Goebel geht es nicht nur darum, den Langemarck-Mythos zu erklären. Er will die Aufmerksamkeit auch auf deutsche Kriegsverbrechen in Belgien und die Verschleppung belgischer Zivilisten lenken – schon im Ersten und nicht erst im Zweiten Weltkrieg, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. "Daran gibt es in der militärhistorischen Zunft keinen Zweifel."
Maly sieht das Ganze gelassen. Einen Konflikt mit dem Anliegen der Belgier kann er nicht erkennen. Denn: "Wir wollen das Gedenken an Langemarck ja fördern und erhalten." Das gelte für den gesamten Straßenzug, in der Angelegenheit stehe man in engem Kontakt zur Denkorte-Initiative Neustadt. Aktuell sei geplant, den Straßenzug im März mit der Denkorte-Initiative zu begehen, um mögliche Denkorte ins Auge zu fassen. Gemeinsam mit dem Beirat, dem Ortsamtsleiter und allen Interessierten sollen die konkrete Ausgestaltung angegangen werden. Auch gegen einen QR-Code hat er nichts einzuwenden.
Ideal wäre aus Sicht von Maly, die Umbenennung im Rahmen einer größeren Veranstaltung am 9. November zu vollziehen, dem traditionellen Gedenktag zum Novemberpogrom von 1938. "Dazu könnte man Vertreter der Gemeinde Langemark-Poelkapelle einladen – und vielleicht auch den Bundespräsidenten bitten, den Akt zu vollziehen."