"Wo genau ist der Notrufort?“, fragt Florian Kirchhoff. Es ist 10.45 Uhr an einem Freitagvormittag. Der Anrufer hat die 112 gewählt, um einen medizinischen Notfall in der Neustadt zu melden. Der Mann berichtet, dass eine Person regungslos am Boden liegt. Womöglich handele es sich um einen Unfall, mutmaßt der Anrufer. Wenige Meter entfernt liege ein Fahrrad am Straßenrand. Kirchhoff will wissen: „Ist die Person bei Bewusstsein?“ und „Atmet sie normal?“ Während der Anrufer weitere Fragen beantwortet, verfolgt Kirchhoff auf einer digitalen Stadtkarte, wie sich der alarmierte Rettungswagen dem Einsatzort nähert.
Wer in Bremen die 112 wählt, landet in der Leitstelle der Feuerwehr und des Rettungsdienstes. Die Einsatzkräfte fragen nach der Art des Notfalls, schicken Rettungsdienst- und Feuerwehrkräfte auf den Weg, lotsen Anrufer am Telefon durch Erste-Hilfe-Maßnahmen, bis die Profi-Retter vor Ort sind. Binnen Sekunden müssen sie Notsituationen einschätzen, Entscheidungen treffen, Hilfe organisieren. Sie müssen Ruhe bewahren und Ruhe vermitteln. Ein Notfall ist für die meisten Menschen eine emotionale Ausnahmesituation. Kirchhoff und seine Kollegen wissen, wie sich Aufregung und Panik anhören. „Das ist absolut verständlich“, sagt der Leitstellen-Mitarbeiter. „Unsere Aufgabe ist es, deutlich zu machen, wie wichtig es jetzt ist, dass wir konkrete Angaben bekommen.“
Die Bremer Leitstelle setzt dafür auf die standardisierte Notrufabfrage. Eine Software leitet Schritt für Schritt durch das Notruf-Gespräch. Auf jede Frage, die das Programm vorgibt, ergeben sich je nach angeklickter Antwort weitere daraus abgeleitete Fragen – und je nach Notfall auch Erste-Hilfe-Anweisungen.
Viele Hosentaschen-Anrufe
„Die ersten Fragen sind die nach dem Notrufort und einer Telefonnummer. Falls das Gespräch abbricht“, erklärt Leitstellen-Leiter Tilman Behrens. In der Aufregung komme dies bei den Anrufern vor. „In dem Fall ist der Einsatzort bekannt und wir können umgehend zurückrufen.“ Für die Anrufer seien die vielen Fragen häufig eine Herausforderung: „Sie wissen nicht, dass im Hintergrund bereits die Rettungskette in Gang gesetzt ist“, erklärt Behrens.
Der Freitagvormittag lässt sich vergleichsweise ruhig an. „Zurzeit laufen 29 Einsätze“, sagt Behrens. Der Leitstellen-Leiter zeigt eine weitere Statistik auf einem der Monitore: 540 angelegte Vorgänge in den vergangenen 24 Stunden – inklusive Fehlanrufen. „Das gibt es immer wieder, sogenannte Hosentaschen-Anrufe, wenn unbeabsichtigt ein Notruf abgesetzt wird.“ Bundesweit berichten Leitstellen – auch der Polizei – von solchen Irrläufern, die Kapazitäten binden und die Leitungen blockieren.

In der Leitstelle der Feuerwehr und des Rettungsdienstes gehen alle 112-Notrufe aus der Stadt Bremen ein.
Ein anderes Phänomen, das auch die Bremer Leitstelle beschäftigt: Die 112 wird häufig auch dann gewählt, wenn es sich nicht um einen „echten“ medizinischen Notfall handelt. „Es rufen Menschen an, die Rückenschmerzen haben. Eltern, die nicht wissen, wohin sie sich mit ihrem fiebernden Kind wenden können. Dann verweisen wir etwa an den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter der 116117", sagt Behrens. Während der Sommerferien habe es weniger solche Anrufe gegeben. "Jetzt läuft es wieder an."
Schnürsenkel für die Nabelschnur
Am Platz hinter Kirchhoff leuchtet das rote Lämpchen. Ein Notruf wird bearbeitet. "Fruchtblase geplatzt, Geburt steht unmittelbar bevor" ist in dem digitalen Einsatzprotokoll zu lesen, auf das auch die alarmierte Rettungswagenbesatzung Zugriff hat. Eine Angehörige der Schwangeren folgt den Anweisungen des Einsatzsachbearbeiters – falls das Kind schneller ist als die Rettungskräfte. „Legen Sie ein trockenes, sauberes Handtuch bereit, um das Baby einzuwickeln – und Schnürsenkel, um die Nabelschnur abzubinden. Ich bleibe die ganze Zeit bei Ihnen, bis die Kollegen eintreffen“, sagt er der Schwangeren über das lautgestellte Handy. „Sie machen das super.“ In diesem Fall kommt es nicht zu einer Hausgeburt. Etliche Male zuvor schon. „Das sind überwältigende Momente“, sagt der Leitstellenleiter.

Leitstellenleiter Tilman Behrens.
Und es gibt die anderen Momente, die auch an den Profi-Rettern nicht spurlos vorbeigehen. Behrens berichtet von einer jungen Frau: Ihr Freund war mit dem Fahrrad gegen ein Auto geprallt. „Er bewege sich nicht mehr, schrie sie voller Panik und Verzweiflung.“ In einem anderen Fall habe eine ältere Frau mit Luftnot angerufen. „Plötzlich war ein Rumpeln zu hören, sie war zusammengebrochen. Dann war Stille“, schildert Behrens. Viele Notfälle nehmen noch ein gutes Ende. Wenn die Einsatzkräfte etwa Anrufer per Telefon durch Wiederbelebungsmaßnahmen leiten. „Jeder Anruf kann ein solcher Notfall sein, bei dem ein Leben gerettet wird“, sagt Behrens.
Im Hintergrund ist wieder Kirchhoff zu hören: „Der Notruf der Feuerwehr und des Rettungsdienstes. Wo genau ist der Notrufort?“