Immer wieder rennt die Frau hin und her – abgehetzt. Als sei sie auf der Suche. Irgendwann stößt ein Mann zu ihr. „30 Euro“, raunt er ihr zu, kurz darauf sind die beiden verschwunden. In der Zwischenzeit humpelt ein anderer Mann barfuß daher und wirft mit wüsten Beschimpfungen diverse Taschentuchpakete durch die Gegend. Ein paar Meter weiter legt sich eine Frau gerade mit einem Pendler an. „Sei lieber vorsichtig, ich habe hier meine Leute“, schreit sie dem Mann entgegen und droht ihm mit dem Zeigefinger. Es reichen 15 Minuten auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofes, um zu bemerken: Dies ist kein Ort, an dem man sich gerne aufhält.
Trotz des Aktionsplans entspannt sich die Situation rund um den Bahnhof bislang nicht. Nach langem Ringen einigte sich der Senat im Januar auf ein umfangreiches Paket, an dessen Umsetzung mehrere Ressorts beteiligt sind. 31 Maßnahmen und rund zwei Millionen Euro sollten dafür sorgen, dass der Hauptbahnhof samt Umfeld für Bremerinnen und Bremer nicht endgültig zum Angst-Ort verkommt. Doch nachhaltige Verbesserung gibt es bisher nicht – im Gegenteil. „Die Lage hat sich in den vergangenen Monaten noch einmal verschärft“, sagt Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) dem WESER-KURIER und kündigt an, den Bahnhof am Dienstag im Senat erneut zum Thema machen zu wollen.
Nach Einschätzung der Experten hat die Zahl der Suchtkranken in jüngster Zeit weiter zugenommen. Ein besonderes Problem stelle nach wie vor die Crack-Szene dar, wodurch der Anteil obdachloser Menschen steige. „Die Zustände sind nicht allein mit verstärkten Polizeikontrollen zu lösen“, sagt Mäurer. Im Oktober (bis zum 26. Oktober) seien von der Polizei 600 Personen kontrolliert, rund 200 Platzverweise ausgesprochen und 125 Anzeigen angefertigt worden. „Das Ergebnis kann uns dennoch überhaupt nicht zufriedenstellen“, so Mäurer weiter.
Immer mehr Bereiche verwahrlost
Unlängst erhitzten die Zustände im neu eröffneten Bahnhof-Parkhaus die Gemüter. Dort sorgte die Drogenszene innerhalb kürzester Zeit für Verwahrlosung. Aber auch die Situation vor dem Szenetreff neben dem Intercity-Hotel sorgt weiter für Unmut. Im Zuge des Aktionsplans sind dort die Öffnungszeiten deutlich ausgeweitet worden. Doch war der Ort ursprünglich als Anlaufstelle für Obdachlose und Alkoholiker geplant. Nun sammeln sich vor dem Eingang zunehmend Gruppen aus der Drogenszene, die die eigentliche Zielgruppe verdrängen würden.

Rund um den Gustav-Deetjen-Tunnel sammelt sich der Müll.
Im Sommer wurde die Fußgängerbrücke am Gustav-Detjen-Tunnel gesperrt, weil Drogenkranke den Weg blockierten und die öffentliche Sicherheit gefährdet war, wie es zur Begründung hieß. Auch jetzt werden einzelne Zaunelemente gelegentlich gewaltsam geöffnet, um sich Zutritt zu verschaffen. Rund um das Gebüsch am Gustav-Detjen-Tunnel verteilen sich Spritzen, Blut, alte Kleidung und Fäkalien.
Problematisch ist auch nach wie vor der Haltestellenbereich der Bremer Straßenbahn AG. Die verstärkte Präsenz von Polizei, Ordnungsamt und BSAG-Mitarbeitern entspanne die Lage zwar phasenweise, doch oftmals finde nur eine kurzzeitige räumliche Verschiebung der Szene statt. „Das subjektive Sicherheitsgefühl unserer Mitarbeitenden ist weiterhin nicht gut, auch wenn sie glücklicherweise nur selten direkt aggressiv von der Szene angegangen werden“, sagt BSAG-Sprecher Andreas Holling auf Nachfrage. „Es bleibt ein latentes Gefühl der Bedrohung durch die Szene.“
Generelles Konsumverbot als Lösung?
Bisher können Polizei und Ordnungsdienst bei Fehlverhalten und Ordnungswidrigkeiten einschreiten und Personen des Platzes verweisen. Nach Angaben der Innenbehörde wertet die Polizei bis zum Frühjahr die Beschwerden, Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aus, die vom offenen Alkohol- oder Drogenkonsum entstehen, um dem Senat gegebenenfalls ein Konsumverbot vorzuschlagen. Etwas, das schon längst überfällig ist, meint etwa Marco Lübke, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion und selbst Polizist: „Die Polizei braucht endlich eine Rechtsgrundlage, um dort vernünftig arbeiten zu können. Der Senat hat bisher total versagt.“
Dass die Schwerpunktmaßnahmen der Polizei oft nur einen kurzzeitigen Effekt haben, lässt sich auch am vergangenen Donnerstag beobachten. Während die Einsatzkräfte am Nachmittag zahlreiche Identitätsfeststellungen durchführen und 14 Platzverweise erteilen, hat man kurze Zeit nach Beendigung der Schwerpunktkontrolle den Eindruck, dass wieder deutlich mehr Angehörige der Szene zurückkehren.
Die innenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Bremen, Birgit Bergmann, bezeichnete den Aktionsplan zu Beginn des Jahres als „wildes Sammelsurium“ von Maßnahmen und Instrumenten, die nicht aufeinander abgestimmt seien. „Und auch jetzt habe ich das Gefühl, dass hier mehr um Deutungshoheiten gerungen wird, als dass es tatsächlich um die Sache geht“, sagt sie.

Mit den Notrufsäulen an den Haltestellen der BSAG sollen besorgte Bürger direkten Kontakt zur Leitstelle der Polizei herstellen können.
Frustration herrscht auch bei den Mitgliedern des Vereins „Attraktiver Bremer Bahnhof“, der die Interessen der Anrainer vertritt: „Unsere Mitglieder haben den Eindruck, dass sich durch den Aktionsplan nichts Wesentliches geändert hat“, sagt Geschäftsführer Hartmut Roder.
Neuer Aufenthaltsort in der Friedrich-Rauers-Straße?
In der Senatssitzung an diesem Dienstag will Innensenator Mäurer Lösungen finden, wie sich möglichst schnell akzeptierte Ausweichflächen für die Drogenszene schaffen lassen. Im Gespräch dafür ist die Friedrich-Rauers-Straße. Dort befindet sich bereits ein provisorischer Drogenkonsumraum, ein festes Angebot inklusive medizinischer Versorgung und Essensausgabe ist geplant. Bis er verwirklicht wird, kann es dauern, die Umbaumaßnahmen dafür hätten noch nicht einmal begonnen, so das Gesundheitsressort. Ziel sei es, den Betrieb spätestens bis Mitte 2024 zu starten.
Wenn es nach Ulrich Mäurer geht, müssen deutlich schneller Lösungen gefunden werden: „Es braucht die Kraftanstrengung aller beteiligten Senatsressorts und vor allem eine akzeptierte Ausweichfläche mit weiteren Angeboten, die die Szene dort hinzieht und die sie dort hält. Dann würden auch die Polizeimaßnahmen mehr Wirkung entfalten können“, sagt er.
Sofia Leonidakis, Fraktionsvorsitzende der Linken sieht ebenfalls dringenden Handlungsbedarf. Eine Anhörung der Gesundheits- und Sozialdeputation zu Toleranz- und Aufenthaltsflächen stehe noch aus, aus ihrer Sicht sei eine Ausweichfläche in der Friedrich-Rauers-Straße jedoch durchaus eine Option, die man prüfen könne – unter einer Bedingung. „Die geflüchteten Frauen und Kinder aus dem nahe gelegenen Übergangswohnheim müssen woanders untergebracht werden. Das ist schon jetzt kein guter Zustand“, sagt sie.

Etliche benutzte Spritzen der Drogenszene liegen offen herum.
Ob sich die Drogenszene dauerhaft in die abgelegene Straße vertreiben lässt, ist fraglich – schließlich erhoffen sich viele Abhängige kleine Geldspenden von den Tausenden Menschen, die den Bahnhofsplatz täglich passieren. Laut Leonidakis brauche es deshalb weitere Ausweichorte für tagsüber. „Als weiteren Ort könnte ich mir den Platz vor dem Übersee-Museum vorstellen. Um den Haltestellenbereich zu entlasten.“
In diesem Vorschlag steckt Konfliktpotenzial, die Anrainer bemühen sich seit Monaten darum, den Platz aufzuwerten und Veranstalter zu gewinnen. Für das kommende Jahr seien zudem eine ganze Reihe an Aktionen vorgesehen, heißt es aus der Innenbehörde, auch unter Beteiligung des Wirtschaftsressorts.