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Bremerin berichtet Post-Covid-Patientin: „Wir verschwinden aus dem Leben“

Wie geht es Long-Covid-Patienten heute? Eine Bremer Betroffene berichtet: "Wir verschwinden aus dem Leben."
11.05.2023, 05:00 Uhr
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Post-Covid-Patientin: „Wir verschwinden aus dem Leben“
Von Marc Hagedorn

Nach dem Termin mit dem WESER-­KURIER wird sich Sonja Uthmann ins Bett legen müssen, obwohl es mitten am Tag ist und obwohl es ihr heute „super“ gehe, wie sie sagt. Die Sonne scheint, sie sitzt mit ihrem Mann im Garten ihres Hauses. Am Tag zuvor ging es ihr so gut, dass sie sich Notizen machen konnte, um sich auf das Gespräch mit dem Reporter vorzubereiten. Aber dieses „Super“ im Mai 2023 hat nichts gemein mit dem „Super“ von früher.

Früher meint die Zeit, in der Sonja Uthmann, die ihren richtigen Namen für sich behalten möchte, noch nicht unter Post Covid gelitten hat. Vor etwas mehr als einem Jahr hat die Krankheit ihr das Leben, wie sie es bis dahin kannte, geraubt. Vor ihrer Corona-Infektion ist Uthmann Wasserski gefahren und Halbmarathon gelaufen. Sie sei „bei minus acht Grad“ den Ostsee-Weg gewandert. Heute muss sie beim Treppensteigen nach drei Stufen zehn Sekunden Pause machen. Fürs Zähneputzen und Haarekämmen muss sie morgens im Bad eine Stunde Zeit einplanen. Ein Tag ist heute „super“, wenn sie nicht 23 von 24 Stunden im Bett verbringen muss.  

Long und Post Covid können teuflische Folgen einer Corona-Infektion sein. Von Long Covid ist die Rede, wenn vier Wochen nach der Ansteckung noch Krankheitsanzeichen auftreten. Von Post Covid spricht man, wenn nach zwölf Wochen Symptome immer noch bestehen oder neue Beschwerden auftreten. Sie reichen von Luftnot, Erschöpfung und kognitiven Störungen über Muskelschmerzen, Schlafprobleme und Husten bis zu Haarausfall, Angstzuständen, Geruchs- und Geschmacksverlust. Und das sind nur ein paar Beispiele.

Man weiß inzwischen immer mehr über die Krankheit als zu Beginn der Pandemie, aber immer noch viel zu wenig, um allen Betroffenen helfen zu können. Die Chirurgin und Buchautorin Claudia Ellert, die selbst betroffen ist, hat beim ersten Long-Covid-Kongress gesagt: „Long Covid ist ein Drama, eine Katastrophe. Diese Menschen verlieren ihr Leben, ohne zu sterben. Sie verlieren ihre Identität.“

Arbeit, Hobby, Sport, Freunde, „mein Leben spielt sich fast nur noch zu Hause ab“, sagt Sonja Uthmann, die dreifach geimpft ist, „wir Betroffenen nehmen nicht mehr am sozialen Leben teil. Wir verschwinden.“ Darum hofft die 51-Jährige, dass an diesem Freitag möglichst viele Menschen nach Berlin reisen werden, um dort auf dem Platz der Republik zu demonstrieren. Sie wollen zeigen, dass es sie doch noch gibt.

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Weil Sonja Uthmann sich die Reise nicht zutraut, wird sie den Veranstaltern eine Botschaft im DIN A4-Format und ein Foto von sich schicken. Stellvertretend für sie wird jemand vor Ort Text und Bild hochhalten. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, eine neuroimmunologische Erkrankung, hat diesen Protest organisiert. Post Covid kann zu ME/CFS werden. Vor dem Reichstagsgebäude werden die Teilnehmer kritische Worte an die Politik richten. Aus ihrer Sicht wird viel zu wenig für die Betroffenen getan.

Tatsächlich hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD Anfang des Jahres angekündigt, 100 Millionen Euro in die Long- und Post-Covid-Forschung investieren und bundesweit zehn spezialisierte Zentren für Studien einrichten zu wollen. Bis diese Pläne umgesetzt sind, wird es dauern. „In Deutschland gibt es eine große Diskrepanz zwischen Forschungsanspruch und gelebter Wirklichkeit“, kritisiert der Mediziner Martin Roesler vom AOK-Bundesverband. Während der Pandemie sei man vielfach abhängig gewesen von Forschungsergebnissen aus Ländern wie Großbritannien, Israel und Dänemark.

Auch Sonja Uthmann hat nicht das Gefühl, dass Deutschland beim Thema Long und Post Covid besonders weit vorne ist. Sie hat zig Geschichten von Patienten gehört, die von Pontius zu Pilatus geschickt worden sind, ohne dass man ihnen hätte helfen können. Ein Problem: Es gibt nicht die eine Therapie, die allen hilft. Nur langsam bauen sich Helferstrukturen auf.

In Bremen ist ein Long-Covid-Behandlernetzwerk entstanden. Die Constructor University in Bremen-Nord ist an einem Forschungsprojekt namens ASAP beteiligt, das auf seiner Homepage ein breites Informationspaket zusammengestellt hat. Neben einer Online-Selbsthilfegruppe mit mehr als 8000 Mitgliedern bietet die Vereinigung Long Covid Deutschland unter www.longcoviddeutschland.org eine digitale Anlaufstelle mit Informationen. Das Robert Koch-Institut berichtet im Netz unter anderem über aktuelle Forschungsprojekte.

Sonja Uthmann kennt die meisten dieser Angebote. Sie recherchiert viel, liest Studien, übersetzt Fachartikel, verfolgt digital die Vortragsreihen der Charité. Geholfen hat ihr auch ihr kleines persönliches Helfersystem. Ihr Hausarzt habe ihre Beschwerden von Anfang an ernst genommen und tue, was er könne, sagt sie. Ihre Therapeutin, die sie regelmäßig besucht, habe ihr geholfen, einen neuen Blick auf sich selbst zu finden.

Sonja Uthmann war es gewohnt, Probleme zu lösen. Als studierte Pädagogin hat sie beruflich Familien beraten. „Ich dachte immer: Wenn man etwas will, dann schafft man es auch.“ Bei Post Covid, merkt sie irgendwann, kommt sie mit ihrer leistungsorientierten Einstellung nicht weiter. Ein Aha-Erlebnis hat sie im März. Sie fühlt sich so gut, dass sie sich eine kleine Runde mit dem E-Bike zutraut. Das Ergebnis ist niederschmetternd, sie erleidet einen Rückfall, einen Crash, wie es im Fachjargon heißt. „Jetzt weiß ich: Wenn ich zu viel will, bringt mich das ins Bett.“ In dem Fall waren es vier Wochen.

Sie habe sich ein ganz neues Koordinatensystem zulegen müssen, sagt Uthmann. Pacing nennen Experten den Ansatz. Pacing bedeutet, dass die Betroffenen sich begrenzen und selbstbeherrschen müssen, dass sie auch an „guten Tagen“ unter ihren Möglichkeiten bleiben sollten, dass sie verzichten und sich gegebenenfalls isolieren. Sonja Uthmann fährt keine Straßenbahn mehr, beim Einkauf trägt sie Maske, und bei Arztterminen wartet sie vor der Praxis, bis sie aufgerufen wird.

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Pacing als eine Strategie, um Rückschläge zu vermeiden, klingt nach einem Hoffnungsschimmer. „Aber die vielen Einschränkungen, der dauernde Verzicht sorgen auch dafür, dass man die eigene Identität infrage stellt. Das, was einen Menschen ausmachte, geht nicht mehr.“ Sonja Uthmann hat sich abgewöhnt, langfristige Pläne zu schmieden. An diesem Tag im Mai freut sie sich darüber, dass die Sonne scheint und immer mehr Blumen anfangen, in ihrem Garten zu blühen. Ihr neues „Super“.

Zur Sache

Ärztenetzwerk in Bremen

Seit Mitte Januar gibt es in Bremen ein Ärztenetzwerk für Post und Long Covid. Dem Netzwerk gehören Herzspezialisten, Lungenfachärzte, Neurologen und Psychotherapeuten an. Sie bieten beim Verdacht auf Long oder Post Covid spezielle Termine an, wenn zuvor ein Haus- oder Kinderarzt eine Verdachtsdiagnose gestellt hat.

Seit dem 16. Januar hat es bis Ende April 150 Terminanfragen gegeben. 109 Patienten konnten laut Kassenärztlicher Vereinigung, die die Terminvergabe organisiert, an Spezialisten vermittelt werden; 39 an Pneumologen, 26 an Neurologen, 25 an die Kardiologie und zwölf an Psychotherapeuten. 22 Anfragen sind in der Bearbeitung, weil die Servicestelle noch Kontakt mit den Patienten aufnehmen muss.

„Die Zahlen bestätigen nach unserer Auffassung, dass es sich bei Long/Post Covid Gott sei Dank nicht um eine neue Volkskrankheit handelt“, sagt Christoph Fox, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung, „gleichwohl bedürfen Betroffene aufgrund teilweise sehr komplexer und schwerwiegender Diagnosen und Symptome besonderer Aufmerksamkeit durch die behandelnden Ärzte.“

Laut Weltgesundheitsorganisation sind 17 Millionen Europäer von Post Covid betroffen. Das Robert Koch-In­stitut geht für Deutschland davon aus, dass sechs Prozent der Infizierten Long- und Post-Covid-Symptome entwickeln.

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