Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

8. Mai: Der Tag der Befreiung Wie heute an das Kriegsende in Farge erinnert wird

Marcus Meyer ist Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung und wissenschaftlicher Leiter des Denkorts Bunker Valentin. Für DIE NORDDEUTSCHE blickt er auf das Kriegsende vor 75 Jahren zurück.
08.05.2020, 06:01 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Marcus Meyer

Der 8. Mai gilt offiziell als der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg endete. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach 1985 vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“. Aber die Dinge liegen komplizierter, sowohl was das historische Datum angeht als auch seine Wahrnehmung als „Tag der Befreiung“.

Am 8. Mai kapitulierten Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine bedingungslos. Die Wehrmacht hatte das offiziell eigentlich schon am 7. Mai in Reims, dem Hauptquartier der Westalliierten, getan. Es bedurfte einer weiteren Bestätigung, die am 8. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterzeichnet wurde. Allerdings so spät, dass es in Moskau schon nach Mitternacht, der 9. Mai also schon angebrochen war. Der Krieg im Pazifik endete gar erst nach dem Abwurf der Atombomben über Nagasaki und Hiroshima und der Kapitulation Japans am 15. August.

Lesen Sie auch

In Bremen-Nord ruhten die Waffen seit dem 5. Mai. Um 8 Uhr morgens trat die Teilkapitulation sämtlicher Wehrmachtseinheiten in Norddeutschland in Kraft. Bis dahin aber wurde der Norden verbittert von der Wehrmacht verteidigt. Britische Truppen, die am Morgen des 27. April die Kapitulation Bremens erzwungen hatten, konnten die Lesum wegen heftiger Gegenwehr und gesprengter Brücken nicht überqueren. Erst als sich britische Verbände aus Richtung Küste näherten, brach auch der letzte militärische Widerstand zusammen. Hinter dem 8. Mai verbirgt sich also auch für den Bremer Norden ein Zeitraum von mehreren Tagen. Wie diese Tage in Rekum und in Farge genau verliefen, wissen wir nicht. Aber: Wir wissen ungefähr, was davor und danach geschah.

Für die Häftlinge in Farge begann dieses „davor“ am 27. März. Gegen Mittag wurde die Bunkerbaustelle von der britischen Luftwaffe angegriffen. Der Einsatz war das Ergebnis präziser Planung nach monatelanger Beobachtung aus der Luft und vom Boden aus. Zwei Bomben durchschlugen den westlichen Teil des Daches. Eine Reparatur war unmöglich, die Baustelle wurde aufgegeben. Ab dem 7. April begann dann die Räumung der Lager. Die Insassen des Gestapo-Lagers in der Rekumer Feldmark mussten in Richtung Hamburg marschieren. Gleichzeitig kamen aus Wilhelmshaven, Meppen und aus Bremen selbst etwa 2500 KZ-Häftlinge nach Farge. Das KZ-Außenlager diente als Sammellager für Todesmärsche nach Sandbostel, Neuengamme und an die Ostsee.

Tod durch Hunger, Krankheit und Gewalt

Insgesamt 5000 Häftlinge gingen aus oder über Farge auf diese Transporte, entweder zu Fuß entlang der Hauptstraßen und durch die Dörfer, oder per Zug. Von den 9000 KZ-Häftlingen, die aus vielen anderen Lagern nach Sandbostel gebracht wurden, starben etwa 3000 vor allem an Hunger, Krankheiten und Gewalt durch die Wachmannschaften. Von den 7000 KZ-Häftlingen, die auf KZ-Schiffe in der Neustädter Bucht verladen worden waren, überlebten nur etwa 600 die versehentliche Versenkung der nicht gekennzeichneten und bewaffneten „Cap Arcona“ und der „Thielbeck“ durch die britische Luftwaffe.

Unter den Überlebenden war der Farger KZ-Häftling Marian Hawling. Er hatte die Zwangsarbeit auf der Bunkerbaustelle, die Todesmärsche und den Untergang überlebt. Um nicht an den Erinnerungen zugrunde zu gehen, beschloss er noch am Ufer der Ostsee, soweit weg zu gehen wie möglich und nicht mehr über seine Erlebnisse zu sprechen: „Ich war gerade 20 Jahre alt, ich hatte ein langes Leben vor mir und würde ich den Rest meines Lebens damit verbringen, über mein Leid zu sprechen, über die schrecklichen Dinge, die ich erduldet hatte, dann würde das mein Hirn vergiften.“

Lesen Sie auch

Juristisch und körperlich war Hawling am 8. Mai frei. Seelisch nicht. Die Haft in deutschen Lagern hat sein Leben geprägt. Erst im hohen Alter begann er darüber zu sprechen. Er kehrte nach Neuengamme zurück und in die Bucht von Neustadt, aber nicht nach Farge. Für die Eröffnung des Denkorts 2015 haben wir ihn um ein Grußwort gebeten, dass er aus seiner jetzigen Heimat Sydney gesendet hat. Für Hawling war es eine große Genugtuung, dass aus dem Ort seines Leids nun eine Gedenkstätte geworden ist. Aber wirklich frei war Marian Hawling nicht. Das teilt er mit nahezu allen Überlebenden, die wir während unserer Arbeit kennenlernen durften. Für sie war am 8. Mai nur die körperliche Unfreiheit vorbei. Die Erinnerungen blieben und bleiben bei den wenigen noch lebenden Augenzeugen des Bunkerbaus.

Das „danach“ war in zwei Welten geteilt. In der einen Welt wirkten vor allem die Verbrechen während des Bunkerbaus noch für kurze Zeit fort: Im ehemaligen Marinelager in Neuenkirchen wurden Überlebende aus Sandbostel aufgenommen und weit in das Jahr 1946 behandelt. US-Soldaten entdeckten die Massengräber in der Rekumer Feldmark. Erst Jahre später fanden die Toten aus Farge ihre letzte Ruhestätte in einem Ehrengrab auf dem Osterholzer Friedhof.

Tag der Niederlage

Die andere Welt war die der vermeintlich nun Befreiten, die sich aber nicht befreit fühlten. Die Mehrheit der Deutschen empfand den 8. Mai als Tag der Niederlage. An diesem Tag wurde das Regime militärisch besiegt, das die meisten Deutschen bis zum bitteren Ende unterstützt und dessen Ziele sie geteilt hatten, von dem viele profitiert und dem sich nur wenige entgegengestellt haben. Das galt auch in Rekum und im Umfeld des Bunkers: Einige Verantwortliche wurden zwar verhaftet und in Hamburg vor Gericht gestellt: der Kommandant des „Arbeitserziehungslagers“ der Bremer Gestapo und einige Wachleute.

Die Übrigen aber blieben unbehelligt und begannen, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Es gab keinen Blick zurück, keine Reue, keine Verantwortung. Es gab nur den Blick nach vorn: Die beiden Planer des Bunkers, Arnold Agatz und Erich Lackner, legten schon im Juni erste Pläne für die Weiternutzung des Bunkers vor. Die beteiligten Firmen forderten von der Militärregierung die Rückgabe ihrer Maschinen und Werkzeuge, um auf neuen Baustellen arbeiten zu können.

Lesen Sie auch

Einige Landwirte forderten die Rückgabe der Grundstücke, auf denen die Baustelle eingerichtet worden war. Sie erhielten Briefe der zuständigen „Reichsumsiedlungsgesellschaft“, auf deren Briefkopf lediglich das Hakenkreuz unter dem Reichsadler herausgekratzt worden war. In den Dokumenten ist nichts einer Befreiung zu spüren. Nur von geschäftigem Bemühen, den eigenen Betrieb, das eigene Tun den neuen Bedingungen anzupassen und über die Jahre davor zu schweigen und vergessen zu machen. Zum Tag der Befreiung wurde der 8. Mai erst Jahrzehnte später.

Zur Person

Zur Person

Marcus Meyer

ist Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung und wissenschaftlicher Leiter des Denkorts Bunker Valentin. Er studierte in Berlin und Bremen Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft.

Info

Zur Sache

Neuanfang nach der Diktatur

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, lag Bremen größtenteils in Trümmern: Die dritte Ausgabe des ­Magazins WK | Geschichte schildert das allgegenwärtige Elend und die Sorgen der Bevölkerung. Es zeigt aber auch die ersten Schritte Richtung Zukunft auf – die Stadt unter der US-Flagge, die ersten Wahlen und die Verteidigung der Selbstständigkeit des Landes Bremens. Erhältlich ab 2. Mai im Handel, in unseren Zeitungshäusern, auf www.weser-­kurier.de/shop und telefonisch unter 0421 / 36 71 66 16. 100 Seiten, 9,80 Euro.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)