Seit wann ist den Fachleuten des Amtes für Straßen und Verkehr (ASV) bekannt, dass die Lesumbrücke an der Autobahn 27 nicht mehr tragfähig ist? Seit der Teilsperrung des Bauwerks wird in politischen Kreisen darüber spekuliert, ob die Schäden ignoriert oder vertuscht worden sind. Wir haben uns die Prüfberichte zeigen lassen, die bis ins Jahr 2002 zurückreichen. Fazit: Die Prüfer bewerteten den Zustand in den vergangenen 17 Jahren nie schlechter als befriedigend.
Wie berichtet, wurde der westliche Teil der Plattenbalkenbrücke im Dezember gesperrt, sodass in beiden Fahrtrichtungen nur noch zwei Streifen zur Verfügung stehen. Die FDP-Fraktionschefin Lencke Steiner warf der Straßenbauverwaltung des Landes in einer Aktuellen Stunde in der Bürgerschaft öffentlich Versäumnisse vor. Die Situation auf der Lesumbrücke sei ein Beleg dafür, „dass die Infrastruktur völlig verkommt“.
„Einen Fall wie die Lesumbrücke haben wir in Bremen noch nicht gehabt“, sagt Martin Stellmann, Sprecher des ASV. Es gebe keine Rissbildung im Bauwerk, die einen Schaden angezeigt hätte. Zurzeit sei die Brücke aufgrund eines Verdachtmoments gesperrt: „Sicherheit geht vor Leistungsfähigkeit. Ende des Monats würden die Ergebnisse der aktuellen Schadensanalyse erwartet, parallel finde aber bereits eine Neubauplanung statt.
Die Kosten für die Schadensanalyse beziffert Martin Stellmann mit rund 350.000 Euro. Mithilfe eines Ultraschallverfahrens würden Proben des Stahls, auch Bohrspäne, auf ihre Qualität untersucht. Externe Gutachter testeten derzeit, wie reißfest der Stahl ist und ob es eine partielle Rissbildung innerhalb des Stahlgefüges gibt. Das Material stammt aus dem Jahr 1949. „Stahl von 1949 ist nicht grundsätzlich schlecht. Die Produktionsverfahren waren damals nur anders. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Stahl an einigen Stellen schlecht ist, sind größer“, erläutert Martin Stellmann.
Hauptprüfung alle sechs Jahre
„So was wie in Genua kann bei uns nicht passieren, weil wir einen engmaschigen Prüfzyklus haben“, behauptet Jörg Tröger, beim ASV Referatsleiter im Bereich Bauwerksprüfung und Bauwerksdatenmanagement. In Italien war im vergangenen August eine Autobahnbrücke eingestürzt und hatte mindestens 38 Menschen in den Tod gerissen.
Jörg Tröger sitzt in seinem Büro. An der Wand hängt eine Karte von Bremen, auf der er einzelne Punkte markiert hat. Das Amt trägt die Verantwortung für rund 3000 Bauwerke, darunter die Autobahnbrücke. Anders als in Italien hafteten die zuständigen Mitarbeiter in Bremen persönlich, sollte auf der Brücke etwas passieren, sagt Tröger. Er schließt deshalb aus, dass jemand im Amt Prüfergebnisse ignoriert.
Einmal im Jahr ordnet der Referatsleiter eine Besichtigung der Brücke an, alle drei Jahre eine einfache Prüfung und alle sechs Jahre steht eine sogenannte Hauptprüfung an, bei der alle Teile, die sichtbar sind, von ausgebildeten Ingenieuren „handnah“ geprüft würden, wie Jörg Tröger beschreibt. Mit dem Hubwagen und zum Teil per Boot machen sich die Brückenprüfingenieure dann auf die Suche nach abgeplatztem Beton und Rostfahnen. Künftig werde Bremen bei der Prüfung von zum Beispiel Brückenpfeilern im Wasser verstärkt auf neue Technik setzen: Sonaraufnahmen.
Die Dokumente über die Hauptuntersuchung selbst gibt das ASV nicht heraus. Die Begründung: Es handele sich um Eigentum der Bundesrepublik. Genehmigt wird eine kurze Akteneinsicht. Demnach erhielt die von fünf Stahlträgern gehaltene Brücke mit einer Betonplatte bei den Hauptprüfungen der Jahre 2002, 2008 und 2014 nie ein schlechteres Ergebnis als 2,9. Der mögliche Notenbereich umfasst eine Skala von 1,0, einem sehr guten Zustand, bis 4,0 für einen ungenügenden Zustand, erläutert Jörg Tröger. „Bei 4 würden wir sperren lassen.“
Prüfberichte gespickt mit Detailaufnahmen
Geprüft worden sind bei den vergangenen drei Hauptuntersuchungen die Standsicherheit, die Tragfähigkeit und die Verkehrssicherheit. Die mehrseitigen Prüfberichte sind gespickt mit Detailaufnahmen der Brücke, deren Unterbau von 1956 und deren Überbau aus dem Jahre 1974 stammt. Mal bemängeln die Prüfer den Fahrbahnbelag, mal eine gebrochene Ankerscheibe oder auch Vogelkot.
2002 wurde unter anderem ein klassischer Schaden festgestellt: Die Betonoberfläche war stellenweise abgeplatzt, der Stahl im Inneren des Betons lag frei und korrodierte. Die Prüfer bewerteten die Dauerhaftigkeit mit der Note 3: „Der Mangel beeinträchtigt die Dauerhaftigkeit des Bauteils und führt mittelfristig zur Beeinträchtigung der Dauerhaftigkeit des Bauwerks. Eine Schadensausbreitung oder Folgeschäden anderer Bauteile ist zu erwarten. Schadensbeseitigung kurzfristig erforderlich.“
Im Jahr 2008 wurde der Zustand des Bauwerks mit der Note 2,9 bewertet. „Einige Schäden haben sich fortgeschrieben, neue sind dazu gekommen“, erläutert Tröger. Auch diesmal wurde eine kurzfristige Instandsetzung als erforderlich angesehen, weil sich der Fahrbahnübergang verschoben hatte: Es bestand ein Höhenunterschied von zwei Zentimetern.
Die vorerst letzte Prüfung hätte 2014 stattfinden sollen. Tatsächlich waren die Prüfer aber erst Ende 2015 vor Ort. Sie erteilten der Lesumbrücke erneut die Gesamtnote 2,9. Dabei wirkten sich vor allem defekte Schutzplanken negativ auf die Note aus. Die Verkehrssicherheit wurde nur als befriedigend angesehen. „Die Verkehrssicherheit ist nicht mehr voll gegeben. Schadensbeseitigung oder Warnhinweis kurzfristig erforderlich“, heißt es in den Unterlagen von 2015. Mittelfristig wird empfohlen, den Korrosionsschutz der Brücke in Teilen zu erneuern.
"Schäden würden im Folgebericht auftauchen"
Jörg Tröger geht davon aus, dass alle empfohlenen Maßnahmen umgesetzt wurden. „Theoretisch würden die Schäden sonst im Folgebericht auftauchen.“ Belege gibt es dafür beim Pressetermin im Amt in Bremen-Mitte aber nicht.
Bleibt die Frage, warum die Schäden plötzlich derart gravierend sind, dass eine Sperrung notwendig wird. Die Sperrung, sagen Tröger und Stellmann, habe nichts mit den bisherigen Prüfergebnissen zu tun. Sondern mit einer 2011 herausgegebenen Richtlinie des Bundes. Durch den mit den Jahren stark gestiegenen Schwerlastverkehr sei das ASV gehalten, alle Brücken statisch nachzurechnen. Bisher seien neben der Lesumbrücke erst 60 der 125 prioritär eingestuften Bauwerke neu berechnet worden. Klar sei aber bereits jetzt, dass jedes Bauwerk Handlungsbedarf ausweise, wie Martin Stellmann formuliert. Er spricht von einem Maßnahmenpaket, „das eine Generation nicht abarbeiten kann“.
Über die Lesumbrücke seien die Prüfer eben nicht wegen augenfälliger Rissbildung gestolpert, „sondern weil der Stahl von seiner Güte nach heutigem Standard von externen Prüfern als nicht ausreichend tragfähig eingeschätzt wurde. Dieses zu verifizieren, sind wir nun dabei.“