Es gibt in Deutschland nach Schätzungen rund 100 000 Großeltern, die ihre Enkel nicht sehen dürfen. Viele schämen sich und leiden still, andere wenden sich an Selbsthilfegruppen wie „Verstoßene Großeltern“. Adele M. (Name geändert) geht einen anderen Weg. Sie sucht Öffentlichkeit, denn ihre Geschichte ist etwas anders: Sie fürchtet um das Wohl des Kindes und wirft dem Jugendamt Untätigkeit vor. Ein Fall aus der Region, der mittlerweile nicht nur Anwälte, Jugendamt und Familienrichter, sondern auch die Bremer Sozialsenatorin beschäftigt.
Den Brief an Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) hat Adele M. im März 2019 geschrieben. Sie wirft dem Jugendamt Vegesack darin massives Fehlverhalten vor. Das Jugendamt habe mehrere Gefährdungsanzeigen vertuscht. Adele M. unterstellt ihrem Sohn, sein Kind in sozialer Isolation aufwachsen zu lassen. Der Sohn schweigt zu den Vorwürfen seiner Mutter. Auch das Sozialressort will sich gegenüber unserer Zeitung nicht äußern, aus Gründen des Datenschutzes.
Als Sprecher des Sozialressorts betont Bernd Schneider jedoch, dass in Bremen jedem Hinweis auf Gefährdung des Kindeswohls nachgegangen werde. In jedem Fall käme es zu einer Beurteilung der individuellen Situation und zu Hilfeleistungen. Gerade der Übertragung eines Sorgerechts müsse immer ein gerichtliches Verfahren vorausgehen, so Schneider. „Das Jugendamt kann die Sorge von sich aus nicht übertragen, schon gar nicht telefonisch“, betont Schneider.
Das ist für den Fall von Belang, weil Adele M. unter anderem behauptet, das Sorgerecht für ihr Enkelkind und dessen Halbgeschwisterchen vor Jahren telefonisch übertragen bekommen zu haben. Die noch jung wirkende Großmutter schlägt auf ihrer Terrasse zwischen Teetassen und blühenden Stauden das Familienalbum auf. Sorgsam wurden die Bilder vergangener Familienfeiern und Geburtstage eingeklebt. Auf den Fotos sind ihre Söhne, ihre Schwiegertöchter, ihre Enkel zu sehen. Die Aufnahmen stammen aus einer Zeit, als noch alles in Ordnung war.
Später geriet die Welt für Adele M. aus den Fugen. Für ihre mannigfachen Beschwerden bei Behörden und Ämtern hat die studierte Sozialwissenschaftlerin längst eine zeitliche Übersicht erstellt. Demnach kam es im Sommer vor einigen Jahren zu einer ersten Kindeswohlgefährdung durch die Mutter des Kindes – mit Polizeieinsatz. Das Baby erlitt Verbrennungen und wurde ins Krankenhaus gebracht. Auch die Mutter wurde danach medizinisch betreut. „Ich rief dann das Jugendamt an und bot an, meinen Sohn – er hatte keine eigene Wohnung – und die beiden Kinder aufzunehmen. Das Jugendamt hat mir telefonisch das vorübergehende Sorgerecht für beide Kinder übertragen. Zu keinem Zeitpunkt ist ein Vertreter des Jugendamtes erschienen.“
"Glanzleistung im Weggucken“
Adele M. berichtet, wie sie dem Baby Kleidung und Nahrung gekauft hat. Das Baby wurde später dem leiblichen Vater übergeben. Ihr Sohn und das Kind zogen in eine eigene Wohnung. Trotzdem kümmerte sich Adele M. nach ihren Schilderungen auch in den nächsten zwei Jahren oft um das Enkelkind, zwei bis dreimal wöchentlich mindestens: „Kuchen backen, basteln, Sommerfest. Ich habe viel Elternarbeit gemacht, um den Eindruck von Normalität herzustellen.“ Auch in den Urlaub sind Großmutter und Enkelkind zusammen gefahren. Eine Zeit lang habe sie gedacht, es werde sich alles zum Guten entwickeln.
Doch dann brachte die neue Partnerin ihres Sohnes ein weiteres Baby zu Welt. Laut Adele M. kümmerte sich ihr Sohn aufopferungsvoll um dieses Baby. Er holte es zu sich und seinem ersten Kind in die eigene Wohnung. Das Jugendamt bekam davon laut Adele M. nichts mit. Für sie „eine Glanzleistung im Weggucken“.
Dann ereignete sich nach ihrer Schilderung auch bei dem zweiten Baby ein Unfall, es musste ebenfalls ins Krankenhaus. Auf Wunsch ihres Sohnes kümmerte sich Adele M. in dieser Notsituation erneut um das ältere Kind. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass ihr Sohn das ältere Kind massiv vernachlässige. Es habe keine Freunde und sogar zur Einschulung habe sich das Kind selbst den Wecker stellen müssen. Sie wandte sich mit ihren Befürchtungen ans Jugendamt. Auch andere Familienmitglieder machten sich offenbar Sorgen. Adele M. jedenfalls berichtet von weiteren Gefährdungsanzeigen, die beim Amt in Vegesack eingegangen sein sollen. „Mit der Folge, dass dem Kind der Kontakt zu allen untersagt wurde.“
Die Großmutter bat schließlich das Jugendamt, zwischen ihr und dem Sohn zu vermitteln. Der Fall landete vor dem Familiengericht: „Mir blieb nur der Klageweg.“ Das Jugendamt erklärte laut Adele M., dass ein Mutter-Sohn-Konflikt vorliege. Letztlich wurde vor Gericht vereinbart, dass die Familie eine Besuchsregelung für Großmutter und Enkelkind treffen soll. Doch zu Besuchen kommt es nicht: Ihr Enkelkind, hat Adele M. erfahren, wolle sie nicht mehr sehen. Auf Briefe von ihr reagiert das Kind nicht.
Die Sozialsenatorin sieht offenbar keinen Handlungsbedarf. Die Dienstaufsichtsbeschwerde der Großmutter sei unbegründet, steht in einem Schreiben, das Adele M. erhalten hat. Die Behörde weist in dem Brief darauf hin, dass in der Familie bereits Hilfen zur Erziehung installiert sind. Die fachliche Prognose der Familienhelfer sei sogar positiv. Hinweise einer Kindeswohlgefährdung gäbe es nicht.
Adele M. sagt aber, es habe in ihrem Fall keine Prüfung von außen gegeben, auch kein psychologisches Gutachten für ihr Enkelkind. Sie findet das nicht richtig: „Ein Jugendamt kann sich doch nicht selbst prüfen.“
Die Großmutter will weiterhin versuchen, Kontakt zum Enkel zu bekommen. An Weihnachten und zum Geburtstag werde sie weiterhin Geschenke überbringen. Auch, wenn ihr Sohn inzwischen von Stalking spreche.