„Gehen Sie hier weg!“ Die Aufforderung ist unmissverständlich. Harald B. *(Name von der Redaktion geändert) hievt sich hoch. Ganz unauffällig hatte er hinter dem Radständer am Supermarkt gesessen. „Aber der da vorn sitzt doch auch hier“, versucht er, seinen Platz gegenüber dem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes zu verteidigen. Vergebens. „Wir wollen nicht, dass Sie sich hier aufhalten.“ Wie die Situation der Obdachlosen in Vegesack ist.
Seit sechs Jahren kommt Harald B. täglich in die Fußgängerzone. Während sich ein anderer Mann ohne Bleibe mit Matratze, Tisch und zwei Stühlen zwischenzeitlich ein Wohnzimmer unter einem Ladendach aufbaut, trägt Harald B. nur seine PET-Tasche bei sich. Jetzt steht er da, unter dem regenverhangenen Himmel, die Blicke des misstrauischen Security-Beschäftigten muss er im Rücken spüren, und überlegt, wohin er sich wendet. „Wir werden überall verjagt, das ist das tägliche Brot.“ Den Szenetreff für Obdachlose am Aumunder Heerweg suche kaum noch jemand seiner Bekannten aus der Fußgängerzone auf – zu viele aggressive Cracksüchtige.
Die Marktbeschicker beginnen, ihre Stände abzubauen. Harald B. lässt Passanten an sich vorbeieilen. Zeit ist etwas, von dem er viel hat. „Das ist eine lange Geschichte.“ Den Satz stellt er gern vor seine Antworten. Vor einiger Zeit hatte er noch eine Wohnung. Bis der Vermieter ihm kündigte. „Ich schlaf mal da und mal da“, berichtet er mit nicht ganz sauberer Aussprache. Alkohol macht ihm schon lange Probleme. Schon seit seinen Jugendjahren in Gröpelingen. Damals habe er seine Gärtnerlehrstelle wegen des Alkohols verloren. Einen Entzug hat er gemacht – vergebens. Eine andere lange Geschichte.
Wie viele Menschen wie Harald B. in Bremen-Nord ohne feste Bleibe sind, weiß niemand. „Eine offizielle Zahl gibt es nicht“, sagt Bernd Schneider, Sprecher des Sozialressorts. Es liegen lediglich Schätzungen vor, die auf Hinweisen von Hilfsorganisationen beruhen. Vor Jahren war die Rede von 600 Wohnungslosen in ganz Bremen. Der Verein für Innere Mission in Bremen geht davon aus, dass die Zahl der Menschen ohne Dach über dem Kopf inzwischen zugenommen hat.
Das Ortsamt Vegesack beobachte die Entwicklung im Mittelzentrum mit großer Aufmerksamkeit, sagt Gunnar Sgolik, stellvertretender Ortsamtsleiter, mit Blick auf die vielen Schlafstätten an der Gerhard-Rohlfs-Straße. „Wir haben die Ressorts für Inneres und Soziales bereits jeweils auf die aktuellen Entwicklungen hingewiesen und den Handlungsbedarf aufgezeigt.
Die Behörden in der Bremer Innenstadt haben längst registriert, dass die gesundheits- und sozialpolitischen als auch die ordnungsrechtlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Crackkonsums am Hauptbahnhof Folgen für die Stadtteile hat: Die Szenetreffs in der Neustadt, in Gröpelingen und in Vegesack registrieren mehr Zulauf. Deshalb müssten die Hilfsangebote in den Stadtteilen ausgebaut werden, heißt es in den Ressorts Soziales, Inneres und Gesundheit. Wie ein solcher Ausbau aussehen soll, sagt aktuell niemand. Klar ist nur so viel: Die Lebenssituation von Crack-Konsumenten und von Obdachlosen sei sehr schwierig und herausfordernd – "nicht nur für die Menschen selbst, auch für die Hilfesysteme“, stellt Sozialressortsprecher Bernd Schneider fest. "Die zuständigen Ressorts sind jetzt dringend gefordert, einen Umgang mit diesem neuen Phänomen zu finden."
Weil in Bremen-Nord immer mehr Menschen in prekären Lebensumständen sichtbar werden, deren Versorgung mit Wohnraum gefährdet ist, plant das Aktionsbündnis Menschenrecht auf Wohnen für den 5. September einen Aktionstag in Vegesack. Und am 7. September will das Bündnis mit Vertretern aus Politik und Wohnungsunternehmen über die Wohnungsnot und fehlende Sozialwohnungen diskutieren.
In Bremen-Nord gibt es laut Sozialressort derzeit eine Pension in Blumenthal, die mit 24 Betten für die Notunterbringung zur Verfügung steht. Darüber hinaus könne die Zentrale Fachstelle für Wohnen 20 Prozent aller neu erstellten Sozialwohnungen belegen. Zum Beispiel, wenn das Gericht Zwangsräumungen anordnet, wenn Mieter ihre Miete nicht zahlen können. In Bremen-Nord passierte das im vergangenen Jahr 103 Mal. „In diesen Fällen ist die Zentrale Fachstelle für Wohnen tätig geworden, um die Räumung abzuwenden“, berichtet Ressortsprecher Bernd Schneider. Allerdings gelang dies laut Amtsgericht in 75 Fällen nicht.
Zurück in der Fußgängerzone: Harald B. setzt sich langsam in Bewegung. In einer Hand hält er die bunte Einkaufstasche. Die andere öffnet er überrascht, als ihm eine Passantin unvermutet eine Münze entgegenstreckt: „Na, wie geht es dir?“, fragt sie mit einem aufmunternden Lächeln. Harald B. schaut auf das glänzende Geldstück auf seinem schwieligen Handteller. Er freut sich im Stillen. „Es ist schön, wenn die Leute was geben“, meint er, als die Frau weg ist. Egal ob Essen oder Geld, denn: "Woanders werden Obdachlose angezündet."
Dass es auch im Mittelzentrum Gewalt gegen Wohnungslose gebe, hat er ebenfalls erfahren. Vor einiger Zeit sei ein Mann an der Lindenstraße „abgestochen“ worden, den er gekannt habe, erzählt er. Was dahintersteckte, weiß er bis heute nicht. Frank Schmitt von der Staatsanwaltschaft Bremen kennt den Fall. Ein psychisch Erkrankter hatte vor einem Jahr zwei Menschen in Fähr-Lobbendorf getötet: „Alle drei stammten aus dem Obdachlosen-Milieu.“