„Vegesack – dieser Ort, vom Walfang bis zum Niedergang, wo die Menschen das Wasser suchen. Und das Wasser geht, fließt weg und kommt zurück. Das ist besonders, so viele unterschiedliche Menschen. So friedlich, so schön.“ Eine Ode an Bremens maritimen Stadtteil – in kaum zwei Minuten zusammengestellt aus einigen Gesprächsfetzen. Niedergeschrieben wurden die Zeilen in einer temporären „Tipp-Stelle“, die sich für ein paar Stunden in der Stadtteilbibliothek Vegesack befand. Ein Tisch, ein paar Stühle, eine Triumph-Schreibmaschine, ein Schild, ein Stapel Karteikarten und zwei Schriftstellerinnen – so sieht eine Tipp-Stelle aus.
Die Bremer Autorinnen Martina Burandt und Ursula Pickener waren vor Ort, um Geschichten einzufangen und die Bibliotheksbesucher waren dazu eingeladen, Impulse zu geben und sich in den Schreibprozess einzumischen.
Projekt zur kreativen Wortschöpfung
Der Kölner Autor und Übersetzer Frank Osthoff entwickelte die Tipp-Stelle vor einigen Jahren als Projekt zur kreativen Wortschöpfung. Texte entstehen spontan unter dem Einfluss von Räumen, Orten und Kommunikation. Während eines Aufenthalts in der Kunsthalle Below lernten Ursula Pickener und Martina Burandt Frank Osthoff und sein Tipp-Stellen-Projekt kennen. Die beiden Autorinnen waren begeistert von dem Format, in dem kurze Texte an ganz unterschiedlichen öffentlichen und nicht-öffentlichen Räumen entstehen. Mitte April dieses Jahres stellte Osthoff das Projekt auch in Bremen vor und übereichte der Bremer Regionalgruppe des VS (Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di) feierlich die „Lizenz zum Tippen“. Martina Burandt und Ursula Pickener haben seitdem drei Tipp-Stellen in Bremen initiiert; zwei in der Innenstadt und nun die Bremen-Nord-Premiere: Ein Schild „Tipp-Stelle“ weist darauf hin, dass die Stadtbibliothek Vegesack, ein Ort des Lesens, des Blätterns, des Stöberns und des Lernens, heute auch ein Ort des Tippens ist.
„Das Konzept ist ganz einfach: Wir möchten mit den Leuten ins Gespräch kommen oder Sätze aufschnappen und das Gehörte in kleine Texte fassen“, erläutert Ursula Pickener. „Es geht darum, Menschen, Orte und Literatur zusammenzubringen“, ergänzt Martina Burandt. Die Menschen, die vorbeigehen oder sich dazu setzen, beeinflussen die entstehenden Texte durch Fragen und Gespräche, aber auch durch Schweigen, Zu- oder Wegsehen. Und die Autorinnen fangen die „vorbeilaufenden Geschichten“ ein. Die Texte – getippt auf Karteikarten – werden, wenn gewünscht, an den Gesprächspartner verschenkt oder in Form einer kleinen Lesung vorgetragen. Vielleicht wird es auch irgendwann eine Publikation geben.
Weitere Termine sind geplant
Das Schreiben ist dabei ein öffentlicher Vorgang, der zudem mehrere Sinne anspricht: Man sieht, wie der Text auf der Karteikarte entsteht, man hört den Anschlag der Schreibmaschine und feine Nasen können sogar die Tinte des Farbbandes riechen. „Das Schreiben mit der Maschine ist ein anderer Prozess als mit dem PC. Man ist konzentrierter, denn Fehler bleiben stehen – wir haben nämlich kein Tipp-Ex dabei“, sagt Ursula Pickener und lacht.
Die erste Besucherin der Tipp-Stelle ist übrigens Fluse, Bibliothekshund in Ausbildung. Der Besuch des Vierbeiners wird sogleich literarisch festgehalten. Und ein Dialog zwischen Bücherregalen wird zum absurden Gedicht. Und als eine Besucherin von der Bücherei schwärmt, wird auch daraus eine poetische Miniatur: „Wie toll das ist, viel schöner, willkommener und sicherer – so ein großartiger Ort, die Bibliothek in Vegesack mit Garten und Bienen und Honig. Und Menschen, die friedlich sind.“ Als nächstes steht ein achtjähriges Mädchen ganz fasziniert vor der Tipp-Stelle. Sie hat noch nie zuvor eine Schreibmaschine gesehen und nutzt begeistert die Gelegenheit, selbst ein paar Zeilen zu tippen.
Alles in allem sind die Bibliotheksbesucher durchaus interessiert an der Tipp-Stelle – aber sie interagieren eher sparsam. Am 7. November ist die Tipp-Stelle erneut zu Gast in der Vegesacker Bibliothek. Dann gibt es die nächste Gelegenheit zu erleben, wie Literatur entsteht und wie „einfach so“ daher gesprochene Worte plötzlich Tiefe bekommen und zu Poesie werden. Martina Burandt und Ursula Pickener freuen sich auf weitere Einladungen für die Tipp-Stelle – gerne auch an ungewöhnliche Orte. So ist beispielsweise eine Tippstelle auf der Fähre „Pusdorp“ geplant. Weitere Informationen und Kontakt unter www.literatur-verbindet.de.