Wird Tanya ihre Familie wiedersehen? Diese Frage hat sie sich am 24. Februar gestellt, der Tag, an dem Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine startete. Tanya, deren echter Name der Redaktion bekannt ist, lebt in Bremen, ihre Familie in der Ukraine. Sie berichtete dem WESER-KURIER über die Situation in ihrer Heimat. Nun berichtet sie erneut – von der Flucht ihrer Familie in Richtung Westen.
Die Entscheidung
Tanyas Familie wollte zunächst in der Ukraine bleiben, sagt sie. Doch die Nachrichten wurden schlechter und die Lage für Zivilisten immer gefährlicher. Die 43-Jährige redete mit der Familie und versuchte, sie von der Flucht zu überzeugen. Sieben Tage nach dem Kriegsbeginn, am 4. März, traf dann ein Teil ihrer Familie die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen.
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Geflüchtet sind Tanyas Mutter, 65 Jahre alt, ihre Schwägerin (40) und ihre zehnjährige Nichte. Ihre Flucht begann am frühen Freitagmorgen. Die Schwägerin wollte eigentlich in der Ukraine bleiben, "aber alleine hätten meine Mutter und meine Nichte die Flucht nicht geschafft", sagt Tanya.
Die Flucht
Tanyas Familie ist aus Kropywnyzkyj geflohen. Die Stadt hieß bis 2016 Kirowohrad, hat rund 230.000 Einwohner und liegt etwa 250 Kilometer südöstlich von Kiew. Durch die zentrale Lage habe es auf die Stadt bislang nur kleine Angriffe gegeben, sagt Tanya. Anderswo sei es deutlich schlimmer. Doch durch die Lage sei es schwer gewesen zu fliehen.
Die Familie machte sich mit dem Auto auf den Weg in die Kleinstadt Snamjanka, die nicht weit von Kropywnyzkyj im Nordosten liegt. Von dort fuhren die Evakuierungszüge in Richtung Westen. Der Eindruck vor Ort war für ihre Mutter einer der schlimmsten auf ihrer Flucht, sagt Tanya. "Sie sind um 6 Uhr morgens am Bahnhof angekommen, um 22.20 Uhr haben sie den ersten Zug genommen." Früher konnten sie nicht fahren, weil viele Züge einfach vorbeifuhren – sie waren zu voll. Der gesamte Bahnhof sei voller Frauen und Kinder und das Chaos groß gewesen.
Von Snamjanka ging die Flucht weiter nach Lwiw im Westen des Landes. Die Zugfahrt dauert für gewöhnlich elf bis 14 Stunden. Doch die kleinen Evakuierungszüge hielten an vielen Orten, die Fahrt habe noch länger gedauert, sagt Tanya. In Lwiw änderte sich der Fluchtplan: Zunächst wollte Tanyas Familie über die polnische Grenze fliehen. Doch diese sei komplett überlaufen gewesen, klärten Helfer die Familie auf. Deshalb führte sie die Flucht nun über Uschhorod, südwestlich von Lwiw, an die Grenze zur Slowakei.
Eine weitere stundenlange Fahrt mit dem Bus lag hinter der Familie. Über die Grenze mussten sie zu Fuß von Bahnhof zu Bahnhof. Fünf Kilometer, keine Leichtigkeit für die 65-jährige Mutter, wie Tanya berichtet. Dort übernachtete die Familie am Sonntag, Helfer vor Ort hätten der Familie ein Hotelzimmer gesucht. "Meine Mutter hat in großen Tönen von den Helfern geschwärmt", sagt Tanya. Sie hätten den Flüchtlingen auch in der Nacht geholfen, ihnen etwas zu essen besorgt und seien rund um die Uhr im Einsatz gewesen. Die Flucht führte sie in die tschechische Hauptstadt Prag. Dort übernachteten sie in einem Schlafwaggon, den Helfer hergerichtet hatten, Dienstag ging die Reise weiter. Von Prag nach Berlin, von Berlin nach Hannover, von Hannover nach Bremen.

Als Tanya ihre Familie wiedergesehen hat, flossen Tränen.
Die Ankunft
Viereinhalb Tage und Tausende Kilometer später steigt Tanyas Familie am Dienstag am Bremer Hauptbahnhof aus. Das Wiedersehen sei sehr emotional gewesen, sagt Tanya, es flossen Tränen. Aber vorher habe es einen kurzen Schrecken gegeben, berichtet Tanya: Die Familie stieg erst nicht aus dem erwarteten Zug aus, kam dann aber zeitnah mit einer anderen Verbindung an.
Vom Bahnhof führte der Weg nun nach Hastedt. Hier lebt Tanya mit ihrem Lebenspartner Thomas Hendrik Adick und ihren beiden Töchtern. Ihre Mutter, Schwägerin und Nichte kommen zunächst im Gästezimmer unter.
Daheim angekommen, wurde über die Flucht gesprochen. "Alle waren sehr müde, meine Mutter hat am ganzen Körper gezittert. Sie hat mir gesagt: Sie sei froh, dass es hier so leise ist, dass keine Sirenen zu hören sind." Es gebe eine Baustelle in der Nähe ihrer Wohnung, sagt Tanya. Als es dort ein lautes Geräusch gegeben hat, sei ihre Mutter vor Schreck zusammengezuckt.
Alle sind an dem Tag früh schlafen gegangen. Auch sie hat in der Nacht beruhigter zu Bett gehen können – ohne den ständigen Blick auf das Telefon in Erwartung einer Nachricht ihrer Familie.
16 Stunden haben die Geflüchteten geschlafen, berichtet Tanya. Sie versuchen nun, sich zu erholen. Bei einem Spaziergang mit der Mutter sei diese am Mittwoch erneut zusammengezuckt, weil sie einen Laubbläser gehört habe. Immerhin ist das Wetter schön: "Wir gehen gleich noch mit meiner Nichte auf den Spielplatz", sagt Tanya am Nachmittag.
Die Zukunft
Wie geht es weiter? Am Mittwoch erkundigte sich Tanya über die Registrierung: Weil ihre Familie Papiere hat, müssen sie sich nicht sofort registrieren.
Tanyas Mutter und ihre Nichte werden erst einmal in Bremen bleiben. Viele Fragen sind noch offen. Wie steht es um die zehnjährige Tochter ihrer Schwägerin, wenn diese in ihr Heimatland zurückkehrt? Was ist mit dem Sorgerecht? Und wie ist es eigentlich mit dem Impfstatus? Über solche Dinge werden sie sich noch in den nächsten Tagen und Wochen Gedanken machen. Der Verein "Ein Herz für die Ukraine" sei eine große Hilfe, sagt Tanya.
Eine gute Nachricht hat Tanya allerdings noch: Ihr Arbeitgeber, eine Förderschule, habe ihr nicht nur auf Wunsch kurzfristig unbezahlten Urlaub gegeben. Ihr Schulleiter erlaube sogar, dass sie ihre Nichte mit zur Schule nehmen dürfe. "Sozialer Kontakt mit anderen Kindern wird ihr guttun", sagt Tanya, "sie freut sich schon darauf".
Die Schwägerin will zurück in die Ukraine. Zu ihrem Mann, zu Tanyas Bruder. Dort leistet er mit seinem Schwiegervater Widerstand, baut Molotowcocktails. Bei diesen Worten holen Tanya die Gedanken vom 24. Februar wieder ein: "Werde ich meinen Bruder wiedersehen?", fragt sie sich.