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Der Fall Carmen Kampa Spuren überführen Mörder nach 40 Jahren

In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1971 wird die 17-jährige Carmen Kampa aus Bremen ermordet. Ein Unschuldiger wird verurteilt und wieder freigesprochen. Nach 40 Jahren überführen Spuren den wahren Mörder.
27.08.2021, 04:00 Uhr
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Spuren überführen Mörder nach 40 Jahren
Von Sabine Doll

Guten Abend, meine Damen und Herren. In diesem Fall geht es um Mord. Um den Mord an einem jungen Mädchen, der vor rund einem halben Jahr in ganz Norddeutschland und insbesondere in Bremen großes Aufsehen und viel Anteilnahme erregt hat.“ Mit diesen Worten kündigt Eduard Zimmermann, Moderator der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“, am 10. Dezember 1971 einen Bericht über den Mord an der 17-jährigen Carmen Kampa aus Bremen an. Die Hoffnung ist groß, dass der Beitrag und der damit verbundene Aufruf an mögliche Zeugen zur Aufklärung des Tötungsdelikts, zum Täter führen. Die Hoffnung erfüllt sich damals nicht. 40 Jahre nach dem Mord ist es soweit.

Der Fall Carmen Kampa ist in vielerlei Hinsicht spektakulär: Es geht um vernichtetes Beweismaterial und um ein spektakuläres Fehlurteil. Es geht um zwei Spurenakten von damals, wovon eine Justizgeschichte schreiben und die andere zum Täter führen wird. Es geht um einen Staatsanwalt, der den Cold Case nach 40 Jahren wieder aufrollt – für den der Fall Carmen Kampa Anstoß zum Jura-Studium ist. Es geht um eine aufwendige Rekonstruktion der Geschehnisse in der Tatnacht vier Jahrzehnte später. Und es geht vor allem um eines: Mord verjährt nicht.

Bitte nicht! Bitte nicht!
Schreie einer Frau

Doch, von Beginn an: Es ist die Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1971. Das Tanzlokal „Miramichi“ in Bremen-Oslebshausen ist bei jungen Leuten beliebt. Auch Carmen Kampa ist an diesem Abend dort, nicht zum ersten Mal. Wenige Minuten nach 23 Uhr verlässt sie die Diskothek, um den Zug 4498 nach Vegesack rechtzeitig zu erreichen. Die 17-jährige Schuhverkäuferin lebt in Aumund bei ihren Eltern.

Um 23.26 Uhr rollt der Zug in den Bahnhof Oslebshausen ein. Darin sitzt der junge Druckereiarbeiter Roland St. Der 17-Jährige sitzt am Fenster, als er die Schreie einer Frau hört („Bitte nicht! Bitte nicht!“), wie er der Polizei berichtet. Roland St. springt auf, öffnet das Abteilfenster und sieht wenige Sekunden lang am Bahndamm eine Frau und einen Mann, die miteinander ringen.Roland St. alarmiert einen weiteren Fahrgast, die Männer können nichts mehr ausrichten – der Zug rollt bereits aus dem Bahnhof. Der Schaffner alarmiert an der nächsten Haltestelle die Polizei. Ein Streifenwagen ist bereits unterwegs zum Bahndamm, auch ein Ehepaar hat durch das geöffnete Schlafzimmerfenster Schreie gehört. Wenige Minuten später trifft die Polizei an dem dunklen Bahndamm ein. Nichts. Keine Spur. Weder von Opfer noch Angreifer.

Belohnung von 10.000 D-Mark

Die Leiche von Carmen Kampa wird drei Tage später auf einem Brachgrundstück etwa 100 Meter vom Bahndamm entfernt gefunden. Die 17-Jährige ist vergewaltigt und gewürgt worden, Messerstiche im Brustbereich werden festgestellt. Die anschließenden Ermittlungen ergeben mehr als 1000 Spuren. Viele Zeugenaussagen widersprechen sich. Eine Belohnung von 10.000 Mark wird ausgesetzt, aber auch sie bringt die Polizei zunächst nicht weiter.

Als zweieinhalb Jahre nach dem Mord am 13. November 1973 Haftbefehl gegen den eher zufällig unter Verdacht geratenen Bauarbeiter Otto B. vom Amtsgericht erlassen wird, ist Uwe Picard Oberstufen-Schüler. Im Juni 1971 ist er mit seinen Eltern nach Bremen gezogen. „Der Fall Carmen Kampa war auch in der Schule ein Thema, über die Ermittlungen wurde in der Zeitung berichtet – wir haben sehr viel darüber diskutiert“, berichtet Uwe Picard im Sommer 2021.


Dass er es sein wird, der als Staatsanwalt 40 Jahre später gemeinsam mit zwei Polizeibeamten den Mord aufklärt, kann er damals nicht ahnen. Aber: „Der Fall Carmen Kampa, insbesondere das Verfahren und die Verteidigung von Otto B. durch den Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, hat mir so sehr imponiert, das hat den Ausschlag für meinen Berufswunsch gegeben“, sagt Uwe Picard.


Am 14. Januar 1975 wird Otto B. vom Landgericht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Strafverteidiger Heinrich Hannover ist von der Unschuld des Bauarbeiters überzeugt. Otto B. ist homosexuell, gegen seine Täterschaft sprechen mehr als nur ein paar Indizien. Dem WESER-KURIER sagt Heinrich Hannover später über seinen damaligen Mandanten: „Er war den Vernehmungsmethoden der Polizei nicht gewachsen.“

Zweiter Prozess am Landgericht

Der beim Bundesgerichtshof eingelegten Revision gibt damals so gut wie niemand eine Chance. Es kommt anders: Beim Durcharbeiten der Generalakte fällt Heinrich Hannover auf, dass das Schwurgericht falsch besetzt gewesen ist. Ein Formfehler. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. Es kommt zu einer erneuten Beweisführung in einem zweiten Prozess am Bremer Landgericht.

Ein Zufall kommt zur Hilfe: Die Spurenakte 59 taucht auf – ein junger Staatsanwalt hat durch die Polizei davon erfahren. Die Akte befasst sich mit Helmut H., der Aushilfskellner und Kleinkriminelle gilt als Frauenheld. Am Tatabend hat er in der Diskothek „Miramichi“ mit Carmen Kampa gesprochen. Außerdem soll er an einer Abfassung eines „Drehbuchs“ mitgewirkt haben, in dem eine junge Frau mit einem Messer bedroht, vergewaltigt und getötet wird. Heinrich Hannover arbeitet heraus, dass Helmut H. des Mordes an Carmen Kampa mindestens genauso verdächtig sei. Der Strafverteidiger führt mehr als 20 Indizien gegen ihn an. Am 28. November 1976 folgt ein spektakulärer Freispruch für Otto B. Zu einer Anklage gegen Helmut H. kommt es nicht, ihm kann die Tat nicht nachgewiesen werden. Er beteuert bis zuletzt seine Unschuld. Es scheint, als bleibe der Mord an der 17-jährigen Carmen Kampa ungelöst. Jahrelang, jahrzehntelang herrscht Stillstand.

Der Täter stand die ganze Zeit in den Akten.
Staatsanwalt Uwe Picard.

Uwe Picard, zuständiger Staatsanwalt für Kapitalverbrechen, rollt den Mord 2010 erneut auf. Die Hoffnung: Neue Ermittler, unbeeinflusst von alten Hypothesen, werfen einen unverstellten Blick auf den damaligen Ermittlungsstand. Das heißt vor allem: Akten lesen, die mehr als 1000 zusammengetragenen Spuren bewerten. Mit „Heinrich-Hannoverscher Akribie“, wie Uwe Picard heute sagt, macht sich das Dreiergespann an die Arbeit. Dem Team um den Staatsanwalt gehören die Polizeibeamten Sven Bergmann und Kai-Christian Höchel an. Ihnen wird bald klar: „Der Täter stand die ganze Zeit in den Akten. Er hat regelrecht zwischen den Aktendeckeln gerufen: Ich bin‘s doch“, sagt Uwe Picard.Ins Zentrum rückt wieder eine Spurenakte, die Akte 135. Sie ist schon am Tattag über den Wachmann Hermann R. angelegt worden, der in der Nacht des Mordes zur Tatzeit eine Kontrolluhr bei einer Firma direkt an dem Bahndamm hätte stechen müssen. Andere Uhren in Tatortnähe hat er ordnungsgemäß bedient – nur die eine zunächst nicht. „Der Wachmann sagte damals aus, dass er die Stechuhren manipuliert und zu der Tatzeit in einer Firma geschlafen habe. Damals hat man ihm das abgenommen“, so Uwe Picard.

Vernichtung der Asservaten

Ein weiterer Hinweis aus der Akte: An dem Bahndamm wird damals ein Stofftaschentuch gefunden worden, das die Ehefrau von Hermann R. als das ihres Mannes identifiziert – wenige Zentimeter neben einer Fahrkarte, die früher am Abend des Tattages für die Strecke von Bremen-Nord in Richtung Innenstadt abgestempelt ist. Nicht aber die Rückfahrt. Die Fahrkarte von Carmen Kampa? Die Aktenlage deutet darauf hin. Aber: Ein entscheidender Sachbeweis fehlt, der den Verdacht klar bestätigt.Vor allem auch deshalb, weil in den 1990er-Jahren der damalige Staatsanwalt die Vernichtung aller Asservate im Fall Kampa angeordnet hat. Bereits 2002 hat Uwe Picard, als neuer Dezernent in der Staatsanwaltschaft, nach den Asservaten suchen lassen. Nach Aktenlage hätten sie da sein müssen. Einziger Fund: Ein Formular, das die Vernichtung bestätigt. Kann es überhaupt noch gelingen, den wahren Täter zu überführen? Hermann R. kann nicht mehr verhört werden – er ist 2003 gestorben. Die Eheleute sind da schon lange getrennt. Später wird die Ex-Frau den Polizisten bestätigen, dass Hermann R. gewalttätig war.

In einer Frühlingsnacht Ende April 2011 – fast auf den Tag genau 40 Jahre nach dem Mord – rekonstruieren die Ermittler das Geschehen am Oslebshauser Bahnhof. Polizeibeamtinnen tragen Original-Schuhe aus der damaligen Zeit und überqueren damit den Schotter an den Gleisen. Hintergrund ist, dass die Absätze der Schuhe von Carmen Kampa keine Kratzer aufwiesen – wohl aber die der Beamtinnen. Uwe Picard: „Das hat  darauf hingewiesen, dass Carmen Kampa die Gleise nicht überquert hat, sondern am Fuß des Bahndamms unterwegs war und dort auf den Täter getroffen ist.“ Dort hätte sich zur selben Zeit Hermann R. aufhalten müssen – um die Stechuhr zu bedienen. Der Staatsanwalt mietet für die Rekonstruktion zudem einen Zug von der Deutschen Bahn, um die Wahrnehmung der Zeugen von damals besser einschätzen zu können – bei ähnlichen Licht- und Witterungsverhältnissen.

Die Ermittler sind überzeugt: Nur der Wachmann kommt als Täter infrage. Aber: Immer noch fehlt der Beweis, der ihn überführt. „Dann kam der glückliche Zufall, dass Haare, die auf der Kleidung von Carmen Kampa gefunden und sichergestellt wurden, der Vernichtung entgangen waren“, sagt Uwe Picard. Sie werden im Archiv des Bundeskriminalamts in Wiesbaden gefunden. Eine Schwester des Wachmanns gibt freiwillig eine Speichelprobe ab, das Ergebnis der DNA-Analyse: Bestimmte DNA-Merkmale des Haares stimmen mit denen der Schwester überein. Neben den anderen Beweisen und Indizien, die gegen den Wachmann sprechen, gilt Hermann R. damit als überführt. 40 Jahre nach dem Mord. In der Pressemitteilung von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei vom  19. August 2011 heißt es juristisch korrekt: Der damalige Wachmann werde „dringend verdächtigt“, die 17-jährige Carmen Kampa vergewaltigt und ermordet zu haben.

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Zehn Jahre später, im Sommer 2021. Uwe Picard ist Staatsanwalt außer Dienst. Nach dem Fall Carmen Kampa und seiner spektakulären Aufklärung wird er häufig gefragt. „Es kommt nicht so häufig vor, dass ein Mordfall, der so viele Jahrzehnte zurückliegt, gelöst werden kann“, sagt er. „Das Glück hat man nicht immer. Aber: Jeder Versuch ist es wert. Antrieb sind die Angehörigen und das Opfer, ihnen sind wir es schuldig, alles zu unternehmen. Und die Botschaft: Mord verjährt nicht.“

Zur Sache

„Verbrechen – Fälle, die die Region bewegten“ ist der Titel einer neuen Rubrik im WESER-KURIER. Jeweils am letzten Freitag im Monat werden wir ausführlich über einen Kriminalfall berichten, der sich in Bremen oder Niedersachsen abgespielt hat. Manche dieser Fälle sind so aufsehenerregend, dass sie bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Einige liegen Jahrzehnte zurück, andere erst wenige Jahre. Im November veröffentlicht der WESER-KURIER außerdem ein Magazin, in dem es um die Verbrechen der Vergangenheit geht.

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