Die Zusage aus Harvard kam um zwei Uhr nachts, per E-Mail. Und das auch noch am 1. April. Um einen Aprilscherz handelte es sich aber keineswegs. „Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, und dann habe ich nur gestrahlt“, erzählt Nilay Ersoy. Die 19-jährige Bremerin war in dieser Nacht mit ihrer besten Freundin extra lange wach geblieben und hatte auf die Antwort gewartet. Auch ihre Mutter blieb wach, um die Tochter im Fall einer Absage zu trösten. Dann kam die Zusage. „Es war einfach überwältigend“, sagt Nilay Ersoy. Und dokumentierte ihre Freude in einem TikTok-Video, das inzwischen 3,7 Millionen Mal Clicks bekam.
Die junge Bremerin kommt aus Tenever, einem Randstadtgebiet, das alles andere als auf Rosen gebettet ist. Und sie hat es geschafft, von der US-Eliteuniversität angenommen zu werden, mit einem der seltenen Vollstipendien. In der vergangenen Woche bekam sie ihr Abiturzeugnis (Abi-Schnitt 1,4). Im August fliegt sie in die USA und wird ab dann an der Spitzenuniversität in der Nähe von Boston studieren.
Sie sei das Kind einer Arbeiterfamilie und wohne im Brennpunkt, sagt Nilay Ersoy über sich selbst. Ihre Eltern kamen aus der Türkei nach Deutschland. Sie selbst und ihre zwei Brüder wurden hier geboren. Ihr Vater arbeitete zuvor als Fahrlehrer und jetzt als Hausmeister. Ihre Mutter sei Hausfrau und habe oft Minijobs gehabt, schildert die 19-Jährige. „In meinem engeren Familienkreis bin ich die Erste, die studiert“, sagt sie.
Und dann gleich in Harvard. An einer der angesehensten Universitäten der Welt, einer Elite-Uni, die US-Präsidenten, Nobelpreisträger und Milliardäre hervorgebracht hat. Von ihren Eltern wurde sie bei ihren großen Plänen unterstützt. „Für meine Mutter war es immer eine Wunde, dass sie nicht selbst studieren konnte, sie war gut in der Schule“, erzählt Nilay Ersoy. Ihre Eltern hätten es allerdings wohl schon lieber gehabt, wenn sie etwas mehr in der Nähe studieren würde, räumt die Tochter ein und sagt lachend: „Ich glaube, sie haben irgendwann gemerkt, dass sie mich nicht aufhalten können.“
Dass sie im Ausland studieren will und das am liebsten an einer Spitzenuniversität wie Oxford, das hat Nilay Ersoy schon als Achtklässlerin beschlossen. „Ich habe mir damals mit meinem Papa die Preise für ein Studium in Oxford angesehen, das waren damals, glaube ich, ungefähr 18.000 Pfund pro Jahr.“ Als nach dem Brexit die Preise für ein Studium dort weiter stiegen, rückte die Option Oxford in weite Ferne, erzählt Nilay Ersoy. „Da war ich in einer kleinen Krise.“ Doch dann recherchierte ihre Mutter, dass Spitzen-Universitäten wie Harvard und Princeton für manche ihrer Studierenden auch Vollstipendien anbieten. Und damit war Nilay Ersoys Ziel gesetzt.

Studenten gehen durch ein Tor an der Harvard University. Auf dem Campus der Elite-Uni befinden sich neben noblen Hallen, der ältesten Universität der USA auch mehrere Museen und ein eigenes Stadion.
Besonders fasziniert sie das gemeinsame Campus-Leben an einer Spitzenuniversität wie Harvard: „Ich fand es einfach interessant, dass man an diesen Unis so ein Gemeinschaftsgefühl hat, dass man zusammen Sport machen kann, dass man auf dem Campus lebt und dass es dort Bälle gibt, das ist eine ganz andere Welt als in Deutschland“, schwärmt sie.
Studium in Harvard wird rund 90.000 Euro im Jahr kosten
Die Kosten für Studium, Wohnen und Verpflegung würden für Nilay Ersoy in Harvard rund 90.000 Dollar pro Jahr betragen. „Ich bekomme alles finanziert, ich muss nur meine Bücher selbst bezahlen“, sagt sie. Das Geld für ihr Stipendium kommt direkt von Harvard, von Spendern der Universität.
An mehreren Spitzenuniversitäten in den USA hat die Bremerin sich beworben, fünf oder sechs, genau weiß sie es selbst schon nicht mehr. Klar ist: Der vergangene Sommer und Herbst waren für sie ein extremer Marathon. Denn in diesen Wochen und Monaten kümmerte sie sich neben der Schule um mehrere Bewerbungen gleichzeitig.

Ein Stück Papier und Grund zum Feiern: Nilay Ersoys Zulassungszertifikat für die Harvard University.
Für die Bewerbung in Harvard stellte Nilay Ersoy ihr politisches Interesse und Engagement ins Zentrum. Im Studium, das in Harvard zunächst fächerübergreifend angelegt ist, möchte sie sich auf Politikwissenschaften spezialisieren. Sie beschrieb in Essays und für ihr Profil ihr Interesse an Nahost-Politik und ihre eigene Identitätssuche zwischen deutscher und türkischer Kultur. „Ich kann mir vorstellen, in die Politik zu gehen, vielleicht als Diplomatin, vielleicht auch als Anwältin für Menschenrechte oder als Journalistin“, sagt die 19-Jährige.
Auch ihre außerschulischen Aktivitäten waren wichtig für die Bewerbung. Nilay Ersoy hat als Lernkoordinatorin Nachhilfe für jüngere Schüler gegeben, sich als stellvertretende Sprecherin im Osterholzer Jugendbeirat engagiert, an Debattierwettbewerben mitgewirkt und in der Schulband eigene Songs geschrieben und gesungen. Außerdem jobbt sie in Cafés und Läden, seit sie 16 ist.
Mehrere ihrer Lehrer schrieben ihr Empfehlungsschreiben für die Bewerbung in Harvard. An ihrer Schule, der Gesamtschule Ost, hat sie sich – besonders im Englischunterricht – gut gefördert gefühlt. Englisch spricht sie fließend: „Englisch ist für mich neben Deutsch und Türkisch fast schon wie eine Muttersprache“, sagt die Abiturientin. Doch in den USA war sie bisher noch nie. Am 24. August geht nun ihr Flug. Dann beginnt ihre neue Lebensphase in Harvard mit einer Orientierungswoche für die internationalen Studienanfänger.