Das Dunkelfeld ist riesig: Fachleute schätzen, dass nur ein bis zwei Prozent aller Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt werden. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet mit einer Million Kindern in Deutschland, die sexuelle Gewalt erleben oder erlebt haben. Am Mittwoch hat die CDU das Thema Kindesmissbrauch mit einer Aktuellen Stunde im Landesparlament auf die Agenda gesetzt. Die Christdemokraten fordern, Bremen müsse mehr Einsatz für Kinderschutz zeigen und setzen sich für härtere Strafen ein: Der Besitz kinderpornografischen Materials und sexueller Missbrauch dürften nicht länger wie bisher nur als ein Vergehen gelten, sondern sollten als Verbrechen geahndet werden, forderte der CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Röwekamp in der Bürgerschaft.
Wie blicken Fachleute, die direkt mit Betroffenen zusammen arbeiten, auf das Thema? „Wir gehen davon aus, dass in Bremen in jeder Schulklasse zwei Kinder sitzen, die betroffen sind“, sagt Psychologin Jana Rump vom Kinderschutz-Zentrum. Sie berät Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erlebt haben, und auch deren Angehörige. Im Land Bremen wurden 2019 laut polizeilicher Kriminalstatistik 137 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt – die Zahl stieg gegenüber dem Vorjahr (81 Fälle) stark an, ebenso wie die Zahl der Anzeigen wegen Kinderpornografie.
„Das ist aber nichts im Vergleich zu dem, was wir hier in der Beratung mitbekommen“, sagt Rump. Das Kinderschutz-Zentrum berät in seinen vier Bremer Beratungsstellen zu allen Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. In etwa jedem dritten Fall geht es um sexuelle Gewalt. Im Jahr 2019 wandten sich 76 Kinder oder ihre Angehörigen an die Beratungsstelle. Und das Kinderschutz-Zentrum ist nur eine von mehreren Anlaufstellen, bei denen sich Betroffene Hilfe holen können: Beratung bieten zum Beispiel die Stelle Schattenriss für Mädchen und das Jungenbüro.
Was könnte Bremen für mehr Kinderschutz tun – und helfen höhere Strafen? „Wir müssen uns überlegen: Was haben die Kinder und Jugendlichen davon, wenn wir das Strafmaß erhöhen?“, sagt Rump. Wenn der Täter bestraft werde, könne das den Kindern kurz gut tun, weil sie erlebten, dass das Gericht ihnen recht gebe. Ein Prozess, der sich häufig über zwei bis drei Jahre ziehe, sei für die betroffenen Kinder aber auch sehr belastend. Das weiß Rump aus eigener Erfahrung: Sie arbeitet auch als Prozessbegleiterin und steht dabei den Kindern und ihren Familien während des Gerichtsverfahrens zur Seite.
Hohe Strafen gibt es selten
In der Praxis komme es selten dazu, dass Täter verurteilt würden, sagt Rump. Und die bisher möglichen Höchststrafen kämen schon jetzt oft nicht zur Anwendung, kritisiert die Beraterin: „Hohe Strafen gibt es selten: Gerichte greifen selten zum vollen Strafmaß, weil es bei sexueller Gewalt – anders als bei anderen Arten von Gewalt – häufig keine eindeutigen Beweise gibt.“ Es gebe keine blauen Flecken oder Würgemale. „Die Täter erschleichen sich das Vertrauen der Kinder.“
Rump befürwortet höhere Strafen: „Ich bin dafür, absolut“, stellt sie klar. Sie sagt, es müsse sich aber bei den Gerichten etwas verändern, damit die höheren Strafen nicht nur auf dem Papier stünden, sondern auch in der Praxis Anwendung fänden. „Die Gerichte müssen anders handeln, Familienrichterinnen und Staatsanwälte müssen fortgebildet werden.“ Häufig hänge es bislang am persönlichen Engagement des jeweiligen Richters, wie ein Prozess zum sexuellen Kindesmissbrauch verlaufe.
Manche Familienrichter würden an interdisziplinären Arbeitskreisen und Netzwerk-Treffen teilnehmen, bei denen man gemeinsam bespricht, wie alle Stellen am besten für Kinderschutz zusammen arbeiten können. Bei solchen Treffen kommen beispielsweise Kinderärzte, Richter, Jugendamtsmitarbeiter und Beraterinnen zusammen. Rump sagt: „Es wäre ein wichtiger Schritt, wenn die Teilnahme an solchen Treffen nicht mehr wie jetzt ein unbezahltes persönliches Engagement ist, sondern wenn die Teilnahme für Familienrichter und Staatsanwälte verpflichtend und auch bezahlt würde.“
Wichtiger als höhere Strafen für die Täter sei es für die betroffenen Kinder vermutlich, das Hilfesystem auszubauen, sagt Rump. „Wenn wir mehr über sexuellen Missbrauch sprechen, kommen vermutlich auch mehr Fälle ans Licht.“ Dafür müsse das Hilfesystem ausgebaut werden. Wer sexuelle Gewalt erfahre, erlebe diese häufig über einen langen Zeitraum und leide danach lange darunter.