Erst waren die unteren Etagen eine Unterkunft für Studenten, dann für Flüchtlinge, jetzt sind sie es für Wohnungslose – noch. Alle müssen raus. So schnell, dass die Frauen und Männer gar nicht wissen, wie sie das schaffen sollen. Die Briefe vom Amt, in denen steht, dass sie die Zimmer im Hochhaus am Vegesacker Bahnhofsplatz an diesem Donnerstag geräumt haben müssen, bekamen sie zwei Tage vorher. Neben dem Bett von Mario Müller stehen Koffer mit Kleidung, Kartons mit Geschirr und medizinische Geräte, die er braucht. Wie, fragt er, soll das alles in so kurzer Zeit von ihm weggeschafft werden?
Müller, 47, früher Kfz-Mechaniker, steht im Türrahmen und schüttelt den Kopf. "Ich bin wohnungslos, das heißt aber nicht, dass ich keinen Hausstand habe." Das hat er auch der Frau gesagt, die einen Tag nach den Behördenschreiben kam. Sie erklärte Müller und den anderen auf der Etage, was nicht in den Briefen stand: wo sie wohnen sollen, wenn nicht mehr am Bahnhofsplatz. Und wie sie dorthin kommen. Die Frau vom Amt verteilte Zettel mit Adressen, bei denen sie sich melden sollten. Jedem gab sie ein Ticket für eine einfache Fahrt mit Bus und Bahn innerhalb des Stadtgebiets.
Müller schüttelt erneut den Kopf. Er meint, dass er jetzt noch immer nicht weiß, wie er den Umzug schaffen soll – mit einer Fahrt und in so kurzer Zeit. Auch das erklärte er der Frau. Ihm zufolge soll sie nicht viel dazu gesagt haben, eigentlich nur einen Satz: "Fangen Sie an zu packen." Müller schaut zu Boden: zu seinen Koffern, Kartons und den medizinischen Geräten gegen sein Asthma. Seit anderthalb Monaten wohnt er auf der zweiten Etage des Hochhauses am Bahnhofsplatz. Und natürlich, sagt er, hat er in dieser Zeit mehr als nur das Bett gebraucht, das bei seiner Ankunft im Zimmer stand.
Auch James Sesay wohnt so lange in der Unterkunft. Auch er hat mehr als ein Bett gebraucht – und darum dieselben Probleme. In seinem Zimmer liegen drei aufgeklappte Koffer, zwei könnte er tragen. Sesay sagt, dass er sich nicht weigern will, das Haus zu verlassen. Er macht, was die Frau vom Amt gesagt hat: packen. Nur ist er genauso ratlos wie Mario Müller von nebenan. Er steht zwischen Stapeln von Wäsche und zuckt mit den Schultern. "Ich räume zwar meine Sachen ein, habe aber überhaupt noch keine Ahnung, wie ich sie ohne Hilfe von einer Unterkunft in die nächste bringen soll."
Sesay, 40, früher Koch, versteht weder die Eile, in der sie die Zimmer räumen sollen, noch den Druck, den die Behörde plötzlich macht. Erst vor Kurzem hat sie ihm nämlich noch etwas ganz anderes mitgeteilt: dass sein Aufenthalt verlängert wird. Sesay zeigt den Brief vom Amt. Mit dem Finger tippt er immer wieder auf ein Datum – 17. August 2018. Sesay kennt den Grund für die Terminverschiebung nicht. Er hat aber den Eindruck, dass im Amt die einen nicht wissen, was die anderen machen. Und dass Menschen wie er, die jahrelang gearbeitet haben, dann ihren Job und später ihre Wohnung verloren, nichts mehr zählen.
Lars Bliemeister hört solche Sätze jetzt oft. Er ist der Hausmeister in der Unterkunft. Er hat den Frauen und Männern die Briefe vom Amt gegeben – erst die Schreiben mit der Verlängerung, dann die Schreiben mit dem Auszugstermin in dieser Woche. Bliemeister sagt, dass die Aufregung in der Unterkunft groß ist. Dass alle zu ihm gekommen sind, weil sie von ihm wissen wollten, was sie denn machen sollen. Und dass er die Leute verstehen kann, die darüber klagen, dass man so nicht mit ihnen umgehen kann. Nach seiner Rechnung sind noch elf Wohnungslose im Hochhaus am Bahnhofsplatz.
Was die Behörde macht, findet er "einfach unfair": Niemand, meint Bliemeister, kann so schnell ohne Hilfe umziehen. Für ihn wiederholt sich jetzt bei den Wohnungslosen, was vor Monaten schon einmal drohte, als die Unterkunft noch Flüchtlingsunterkunft war. Damals sollten 67 Frauen, Männer und Kinder, die jahrelang in dem achtgeschossigen Gebäude gelebt hatten, in ähnlich kurzer Zeit ausziehen. Später verlängerte die Behörde die Frist und organisierte einen Shuttleservice für die Familien. Die Bus- und Bahntickets, die sie zuvor verteilen ließ, wurden wieder eingesammelt.
Das soll auch diesmal wieder passieren. Am Nachmittag sagt David Lukaßen, was die Frau vom Amt den Wohnungslosen am Morgen nicht gesagt hat. Der Sprecher von Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) kündigt einen Bus an, der die Wohnungslosen in die neuen Unterkünfte bringen soll. Und einen Anhänger für die Koffer mit Kleidung und Kartons mit Geschirr. Eine neue Frist wird es allerdings nicht geben. "Es bleibt beim Termin für den Auszug in dieser Woche." Lukaßen sagt, dass er unverschiebbar ist. Ihm zufolge will der Eigentümer die Etage sofort übernehmen, weil er einen anderen Mieter hat.
Dass die Behörde den Wohnungslosen zunächst geschrieben hat, ihr Aufenthalt wird verlängert, begründet Lukaßen mit einer Fehleinschätzung: "Wir hatten angenommen, dass die Unterkunft vorerst bleibt. Die Gespräche mit dem Eigentümer entwickelten sich jedoch anders." Mete Recepoglu, der mit einem Partner einen Teil des Hochhauses gekauft hat, sagt es etwas anders. "Die Unterkunft hätte es weiterhin geben können, aber nur mit einem Vertrag." Doch den, meint er, wollte die Behörde nicht. Jetzt will er aus mehreren Etagen ein Hostel machen. Im August soll der Umbau sein, im September die Eröffnung.