Für die zuletzt rund 8000 Gefangenen und Internierten der Lager in Westertimke hätte das Kriegsende vor bald 80 Jahren auch weniger glimpflich ausgehen können. Als sich alliierte Truppen in den letzten Apriltagen 1945 näherten, leistete die Wehrmacht in nächster Umgebung erbitterten Widerstand. Buchstäblich über die Köpfe der Lagerinsassen hinweg beschoss die deutsche Artillerie die vorrückenden britischen und kanadischen Verbände, am liebsten hätte die Wehrmacht einen Wachturm des Lagers als Beobachtungsposten genutzt. "Die internierten Seeleute haben zweimal überlebt", sagt Michael Ahrens, Mitverfasser eines neuen Buchs zur Geschichte des Lagers, das die Kriegsmarine für zivile Seeleute eingerichtet hatte. "Erst haben sie die oft jahrelange Gefangenschaft überlebt und dann die Kämpfe Ende April 1945."
Gleichwohl hebt sich Westertimke deutlich vom Stammlager (Stalag) X B Sandbostel unweit Bremervörde ab. Ein Massensterben wie unter sowjetischen Kriegsgefangenen in Sandbostel gab es in Westertimke nicht. Keiner der überwiegend britischen Seeleute ist in dem 30 Kilometer nordöstlich von Bremen gelegenen Dorf verhungert, nur einer gewaltsam zu Tode gekommen. Die Anfänge des Lagers reichen zurück bis in den Sommer 1941, als sich die Kriegsmarine vom Heer emanzipierte und sich ihre eigenen Gefangenenlager zulegte. Damals begann der Ausbau des verlassenen Feldflugplatzes Westertimke zum zentralen deutschen Lagerstandort der Kriegsmarine: Das Marine-Interniertenlager (Milag) war für zivile Seeleute von aufgebrachten Handelsschiffen vorgesehen, das benachbarte Marinelager (Malag) für militärische Seeleute versenkter Kriegsschiffe. Zu drei Vierteln handelte es sich dabei um britische Staatsangehörige.
Mit Bremen gibt es gleich mehrere Verbindungen. Im wahrsten Wortsinne die Kleinbahn "Jan Reiners", die vom Parkbahnhof auf der Bürgerweide das Lager versorgte und Neuankömmlinge nach Westertimke brachte. Für manch einen gestandenen Seemann war die Kleinbahn ein geradezu lächerliches Gefährt, ein Gefangener sprach von einem "absurd little train". Denkwürdig auch die Rolle der Bremer Gestapo, die eben nicht nur für die Hansestadt zuständig war, sondern seit 1941 auch für das gesamte Gebiet zwischen Weser und Elbe und damit den neuen Lagerstandort. Fast schon kurios, dass die Lagerstraßen mit Trümmerschutt aus Bremen passierbar gemacht wurden – und die Internierten daraus Quarz für den Bau illegaler Rundfunkgeräte entnahmen. Oder dass "eine gewisse Frau Meyer" aus Bremen die Kostüme für die größeren Produktionen des Lagertheaters nähte.

Fußballer auf dem Sportplatz des Marine-Interniertenlagers Westertimke - im Hintergrund zu sehen: Stacheldraht und ein Wachturm.
Wenn es um britische oder amerikanische Kriegsgefangene geht, dürfte so manch einem "Ein Käfig voller Helden" in den Sinn kommen, die bekannte US-Fernsehserie aus den 1960er-Jahren. Für Heiterkeit sorgten der tollpatschige Wachsoldat oder der leicht zu beeinflussende Lagerkommandant. Dass sich auch die unfreiwilligen Bewohner des Milag gern über ihre deutschen Bewacher lustig machten, steht außer Frage. Ein leitender Offizier musste sich den Spitznamen "frying pan" gefallen lassen, weil er vergebens versucht hatte, am schwunghaften Tauschhandel teilzuhaben, um eine Bratpfanne gegen hochwertigen Pfeifentabak aus Rotkreuz-Beständen zu tauschen. Als "Jimmy Sauerkraut" verulkten die Internierten den Lagerkommandanten. Und doch ist das nur eine Seite der Wahrheit. "Man muss sich dafür hüten, ins Anekdotenhafte abzurutschen", warnt Ahrens.
Weniger zu lachen gab es zuvor in Sandbostel für britische Seeleute, obwohl sie dort bis zu ihrem Umzug nach Westertimke zu den Privilegierten gehört hatten. Doch noch nicht einmal das genügte den Bestimmungen der Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen. Deutschland sah sich wachsendem Druck aus dem Ausland gegenüber und hatte auch selbst ein Interesse daran, keine schlechte Figur zu machen – gerade mit Blick auf England und später die USA als unbesiegte Kriegsgegner, die ihrerseits deutsche Soldaten gefangen hielten. Deshalb akzeptierte Deutschland regelmäßige Kontrollbesuche des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Insgesamt 17 Mal reisten IKRK-Delegationen nach Westertimke – zuletzt noch zwei Wochen vor der Befreiung.
Wie schnell das Pendel in eine komplett andere Richtung ausschlagen konnte, zeigt indessen das Beispiel des jüdischen Lagerarztes Karel Sperber. Zum Verhängnis wurde dem gebürtigen Tschechen die Frage seiner Staatsangehörigkeit. Nach dem Einmarsch der Deutschen war Sperber im Frühjahr 1939 aus Prag geflohen und hatte auf dem britischen Frachter "Automedon" angeheuert. Im November 1940 wurde das Schiff vom deutschen Hilfskreuzer "Atlantis" aufgebracht. Sperber geriet in Gefangenschaft und kam 1941 als Zivilinternierter erst ins Lager Sandbostel, dann nach Westertimke. Dort wurden deutsche Abwehroffiziere auf ihn aufmerksam und schalteten die zuständige Bremer Gestapo ein. "Gegen einen englischen Juden hätte es kaum eine Handhabe gegeben", sagt Ahrens. Doch weil Sperber keine englische Staatsangehörigkeit vorweisen konnte, wurde er im Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert. Auch dort wirkte er als Arzt, nur mit viel Glück überlebte er die Mordmaschinerie.
Für Westertimke waren die neuen Lager so etwas wie ein Kulturschock. Ahrens weiß das nicht nur aufgrund eigener Nachforschungen. Seine Familie mütterlicherseits stammt aus dem Dorf, auf dem Hof der Großeltern arbeitete ein englischer Seemann. Binnen kürzester Zeit wurde das beschauliche Dorfleben auf den Kopf gestellt. Mit der Außenwelt habe es nie einen großen Austausch gegeben, sagt der Journalist und Historiker. "Die Auswanderungswellen sind am Dorf vorbeigezogen." Und nun befanden sich plötzlich massenhaft Ausländer vor Ort, ein Vielfaches der Dorfbevölkerung. "Unter den Internierten befinden sich Neger, Inder, Mohammedaner, Menschen aus dem gesamten englischen Weltreich", vermerkte die Schulchronik im Jargon der Zeit.
Sozialer Kontakt zwischen den Gefangenen und den Dorfbewohnern war selbstverständlich nicht vorgesehen. Ganz vermeiden ließ er sich aber nicht – etwa, wenn Gefangene auf umliegenden Bauernhöfen arbeiteten. Durchaus vorteilhaft für beide Seiten waren Tauschgeschäfte. Was den Deutschen fehlte, hatten die Internierten durch die Rotkreuz-Pakete in Überfluss: echten Bohnenkaffee, anständige Zigaretten, Pfeifentabak, Dosenfleisch, Schokoriegel. Umgekehrt konnten die Einheimischen mit frischem Obst und Gemüse, Brot, Eiern, Fleisch und Alkohol aufwarten. Wenig erstaunlich, dass sich daraus ein florierender Schwarzhandel entwickelte. "Sogar von Hamburg kamen Besucher in das kleine Dorf, um vor allem Kaffee einzutauschen", sagt Ahrens.

Ausgabe von Rotkreuz-Paketen im Marine-Interniertenlager Westertimke. Der Inhalt war auch als Tauschware nützlich.
Dennoch war der Lageralltag in seiner ganzen Eintönigkeit kein Zuckerschlecken. Auch wenn die Situation im Vergleich zu den Bedingungen für französische und belgische, erst recht polnische oder russische Kriegsgefangene deutlich angenehmer war, drohte über kurz oder lang der Lagerkoller, das Stacheldrahtfieber ("barbed-wire fever"). Getrennt von Familie und Freunden zu sein, fern der Heimat, ohne eine verlässliche Rückkehr-Perspektive – das allein war schon eine schwere psychische Belastungsprobe. Hinzu kam die räumliche Enge, der laut Ahrens "absolute Mangel an Privatsphäre". Und das Wissen, im besten Alter seiner Freiheit beraubt, und zur Untätigkeit verurteilt zu sein. "Hauptsächlich mussten wir mit der Langeweile fertig werden", erinnerte sich der Seemann Ernest Sharrock.
Gegen die Langeweile halfen Fluchtpläne. Mehrfach wurden in monatelanger Arbeit lange Tunnel gegraben. Doch die geografische Lage zwischen Weser und Elbe machte einen erfolgreichen Ausbruch nicht eben leichter, früher oder später wurden die Entwichenen gefasst – mal in Köln, mal am linken Weserufer oder am Nord-Ostsee-Kanal. So weit bekannt, glückte nur einem einzigen Engländer über Hamburg die Flucht mithilfe eines schwedischen Frachters. Ein anderer Zeitvertreib war die berufliche Fortbildung. "Der Gefangenschaft wurde auf diese Weise ein Sinn gegeben", sagt Ahrens. Solchen Aktivitäten wurden keine Steine in den Weg gelegt, im Gegenteil. Im April 1944 legten in Westertimke 106 Kandidaten ihre Prüfungen für Kapitäns- und Bootsmanns-Patente ab.
Eine willkommene Abwechslung verhießen breit gefächerte Kulturangebote. Neben dem Lagertheater gab es eine gut ausgestattete Bibliothek, ein Orchester und ein Kino. Der Haken bei den bewegten Bildern: 20 der 24 gezeigten Filme zwischen 1943 und 1945 waren deutschsprachige Filme, zumeist Landschaftsfilme. Parallel konnte man sich mit verschiedenen Gesellschafts- und Glücksspielen die Zeit vertreiben. Besonders beeindruckend: ein Roulette-Rad, gebastelt aus dem Vorderrad eines Fahrrads. Sportliche Aktivitäten kamen ebenfalls nicht zu kurz. Am südlichen Ende des Lagerbereichs diente ein Sportplatz insgesamt elf Fußballteams für einen regelrechten Ligabetrieb. "Den Spielen wohnten viele Internierte wie auch Wachen als Zuschauer bei", schreibt Ahrens. Sogar Boxkämpfe und Gartenarbeit wurden den Engländern gestattet. Völlig uneigennützig war das alles natürlich nicht – die Lagerleitung setzte darauf, dass ausreichende Beschäftigung die Internierten von "dummen Gedanken" abbringen würde.
Die Lagergeschichte Westertimkes war bisher zumindest in Deutschland ein blinder Fleck. Bei der Aufarbeitung hat Ahrens viel Unterstützung erhalten. Aus Wales von Gabe Thomas, den Ahrens deshalb als Mitautor aufführt. Doch auch im Dorf selbst rannte er offene Türen ein. "Die Leute haben mich ermutigt, die Geschichte des Lagerstandorts zu recherchieren", sagt der 54-Jährige. Das hat Ahrens mit viel Akribie und Detailliebe getan, ohne dabei den überregionalen und internationalen Hintergrund zu vernachlässigen.