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In der eigenen kleinen Welt Warum Klimawandel-Leugner mittlerweile auf neue Strategien setzen

30 bis 40 Prozent der Bevölkerung sind laut Studien überzeugt, dass der Klimawandel nicht nur menschengemacht ist. Das hat psychologische Gründe, aber nicht nur, so der Klimapolitikforscher Sebastian Levi.
30.10.2022, 10:00 Uhr
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Von Björn Lohmann
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Die Daten aus dem jüngsten Bericht des Weltklimarats sind eindeutig: Wenn die globale Erwärmung auf weniger als 1,5 Grad begrenzt werden soll, kann Deutschland sich nicht einmal mehr fünf Jahre mit Emissionen wie 2021 leisten. Das ist für sich schon dramatisch und gewinnt zusätzliche Brisanz, weil die einstigen Leugner des Klimawandels heute eine neue Strategie haben: die Klimaschutzverzögerung. Der Klimapolitikforscher Sebastian Levi von der Hertie School of Governance hat diese Mechanismen untersucht.

„In Deutschland hat es nie einen großen Anteil an direkten Leugnern gegeben, die den Klimawandel als nicht existent beschreiben“, berichtet Levi. Allerdings habe das soziale Nachhaltigkeitsbarometer des IASS, dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam gezeigt, dass 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung nicht überzeugt sind, dass der Klimawandel hauptsächlich menschengemacht ist. „Das führt natürlich dazu, dass man weniger Tatendrang verspürt, etwas dagegen zu tun“, sagt der Politikforscher. Dennoch gebe es kaum jemanden, der von sich sagen würde, er wolle Klimaschutz nicht oder diesen sogar verhindern. Eher heiße es dann, der Klimaschutz sei übertrieben, man müsse es kostensparender machen, oder es sei eh zu spät.

Zwei Gründe

Gründe dafür sieht Levi vor allem zwei: das sogenannte Motivated Reasoning und den System Justification Bias. Erstes bezeichnet das Phänomen, dass Leute gerne das glauben, was sie glauben möchten, beispielsweise was das eigene Selbstbild unterstützt. „Wenn ich lange im Kohlebergbau gearbeitet habe und als wichtigen Teil meiner Realität begreife, dann fällt es mir schwerer, zu sagen, dass Kohle das Problem in Deutschland ist“, erläutert Levi. „Dann sage ich vielleicht eher: Das mit der Kohle ist technisch schon so gut gemacht, wir müssen eher auf andere Sektoren gucken.“

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Der System Justification Bias bedeutet zusätzlich, dass Menschen Fakten weniger akzeptieren, welche das System diskreditieren, in dem sie leben, dem sie vertrauen und von dem sie sich Stabilität erhoffen. „Das führt dazu, dass Leute Aussagen von Wissenschaftlern, denen sie eigentlich vertrauen, nicht glauben“, beschreibt Levi. Er nennt ein Beispiel: Wenn es eine Grundüberzeugung sei, dass die Industrialisierung keine negativen Folgen habe und dass Wirtschaft immer zu einem guten Auskommen führe, weshalb man sie nicht einschränken sollte, dann falle es schwerer zu glauben, dass man fossile Industrien einschränken müsse, um katastrophale Folgen zu verhindern.

Vier Verzögerungstechniken

Levi selbst hat mit Kolleginnen und Kollegen in einem Forschungsprojekt vier übergeordnete Klimaschutzverzögerungstechniken, sogenannte Metadiskurse, identifiziert. Die erste Botschaft lautet: Klimaschutz ist gar nicht mehr möglich, weil es schon zu spät ist oder weil man die Gesellschaft nicht so grundlegend verändern kann.

Der zweite Diskurs sagt, es sei möglich, aber nicht wünschenswert das Klima so stark zu schützen, denn das ist zu teuer und man muss dafür zu viel einschränken. Eine dritte Gruppe hält Klimaschutz für wünschenswert – aber nur solange sie selbst nicht von den Einschränkungen betroffen ist. „Da heißt es dann: ‚Guck doch mal nach Polen, wie viele Kohlekraftwerke da noch laufen.‘, oder ‚Jetzt sollen schon wieder Kohlekraftwerke runtergefahren werden, soll doch erst mal die Automobilindustrie was machen‘“, veranschaulicht Levi. Der vierte Diskurs unterstützt nicht-radikale und nichttransformative Strategien, propagiert aufeinander aufbauende Lösungen und Scheinlösungen.

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„Es ist schwer zu sagen, inwieweit diese Diskurse strategisch hervorgebracht werden“, berichtet der Politikforscher. Manche Fachleute seien davon überzeugt, und aus der Vergangenheit gebe es dafür auch Belege. Das Problem sei jedoch, dass in jedem Verzögerungsdiskurs ein Fünkchen Wahrheit stecke: „Na klar ist es schwierig, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten – das heißt aber nicht, dass wir nichts mehr tun müssen“, sagt Levi. Legitime Besorgnisse würden dafür benutzt, aktiv Klimaschutzmaßnahmen zu verzögern oder zu verhindern. „Man kann legitime Kritikpunkte aber auch konstruktiv vortragen“, zeigt der Forscher einen Unterschied zu Verzögerungstaktiken auf.

Wenige deutsche Klimaleugner-Organisationen

„In Deutschland gibt es nur eine echte Anti-Klimaschutz-Organisation, und das ist EIKE, euphemistisch gesagt ein Thinktank“, berichtet Levi und greift zu einer harschen Einschätzung: Gelinde gesagt werden die EIKE-Leute als Spinner wahrgenommen, deren tatsächlicher Einfluss auf die Klimaschutzpolitik in Deutschland gleich null sei. „Die haben nichts außer einem Büro, einer Website und einer jährlichen Konferenz.“

Woher EIKE das Geld bekomme, sei schwer nachzuvollziehen, in den USA komme es meist von libertären Thinktanks, die primär libertäre Ideen unterstützen wollen und nicht explizit Klimawandelleugner. „Einen gewissen Einfluss auf die Klimawandelleugnung in Deutschland hat die AfD, weil sie im Bundestag ist“, sagt Levi. „Aber die AfD ist nicht primär eine Klimaschutz leugnende Organisation, sondern eine rechtspopulistische Partei, die auch Klimaschutzleugnung betreibt.“ Und obwohl AfD-Wähler im Parteienvergleich am wenigsten Klimaschutz wollen, wünschten sie sich deutlich mehr Klimaschutz als die Abgeordneten propagieren. Untersuchungen hätten gezeigt, dass weniger als zehn Prozent der AfD-Wähler Klimaschutz leugnen.

Wichtig: Kompromissfähigkeit

Wie erkennt man nun, ob man einem Verzögerungsdiskurs aufsitzt? „Unsere Kritik sollte nicht lähmend sein, sondern konstruktiv“, sagt Levi. „Lieber den Kompromiss suchen, ehe man gar nichts  hinbekommt.“ Es sei wichtig, dass wir so viel Klimaschutz wie möglich bewirken. Dazu müsse die Gesellschaft mehr über die Schwierigkeiten der Klimaschutzmaßnahmen sprechen, zum Beispiel über soziale Gerechtigkeit und Umsetzbarkeit.

„Ist plötzlich alles vorbei, wenn das 1,5-Grad-Ziel gerissen wird, muss uns dann alles nichts mehr kümmern?“, fragt der Politikforscher und gibt selbst die Antwort: „Nein!“ Aber das seien wichtige Debatten, die gerade jetzt noch stärker geführt werden müssten, damit Verzögerungstaktiken nicht greifen.

Zur Sache

Propagandaschlacht und die "Gegen-Greta"

Der renommierte Klimaforscher Michael Mann hat eigene Erfahrungen und investigative Recherchen in seinem Buch „Propagandaschlacht ums Klima“ zusammengetragen. Daraus wird deutlich, wie Nutznießer der fossilen Energien systematisch und mit viel Geld Verzögerungsdiskurse forcieren – und das zielgruppenspezifisch. So werden Liberale mit Zukunftstechnologien zu Untätigkeit in der Gegenwart verleitet und selbst Klimaaktivisten gelähmt, indem sie überzeugt werden, dass die Menschheit bereits dem Untergang geweiht sei. Bots verzerren das Meinungsbild in sozialen Netzwerken. Die Rechercheorganisation Correctiv deckte 2020 auf, wie der US-Thinktank Heartland Institute in Deutschland mit Naomi Seibt versucht hat, eine junge AfD-nahe Youtuberin als „Gegen-Greta“ aufzubauen, um Desinformationen zu streuen. EIKE ist laut Correctiv mit Heartland ebenso wie mit der AfD eng vernetzt.

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