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Interview zu Tod und Trauer "Tod bleibt ein ewiges Mysterium"

Friedhofsflüsterin Anja Kretschmer führt an diesem Wochenende über den Friedhof in Alt-Stuhr. Im Vorfeld sprach sie im Interview mit dem WESER-KURIER unter anderem über den Umgang mit Tod und Trauer.
27.09.2023, 14:29 Uhr
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Von Eike Wienbarg

Frau Kretschmer, was fasziniert Sie so an den Themen Tod und Friedhof?

Anja Kretschmer: Mich fasziniert das Thema Tod, weil es ein ewiges Mysterium bleibt. Warum und wohin gehen wir? Niemand weiß, wie lange dieses eine Leben hier auf der Erde dauert, wie viel Zeit uns geschenkt ist. Daher ist es für mich wichtig, für jeden Moment dankbar zu sein, sich an den kleinen und großen Wundern zu erfreuen und liebevoll auf die immateriellen Geschenke zu blicken, die mir überreicht wurden. Der Friedhof war seit jeher meine zweite Heimat, der mich mit offenen Armen zu jeder Zeit empfängt. Egal wie hart, dramatisch oder schmerzhaft das Leben war, hier findet es seine Ruhe und diese wiederum erdet mich, stimmt mich demütig.

Wie sind Sie darauf gekommen, Führungen dazu anzubieten?

Ich kam vor zwölf Jahren im Rahmen meiner Dissertation zum Thema "Architektur auf Friedhöfen" zu diesen Führungen, da ich ehrenamtlich aktiv war und bin und den Menschen die Schönheit und Wohltat der Friedhöfe zeigen wollte. Die Geschichten unserer Vorfahren sind identitätsstiftend, liefern aber gerade so viel zeitlichen Abstand, wie viele ihn benötigen, um sich überhaupt freiwillig mit diesem Thema zu befassen.

Können Friedhöfe mehr sein, als ein Ort für Tote und der Trauer?

Friedhöfe sind definitiv mehr. Das hat man gerade auch zur Corona-Zeit gesehen, als man in der Stadt Freiheit und Normalität suchte und sie auf den Friedhöfen fand. Sie sind Erholungsorte, Orte der Natur, Regeneration, Begegnung, der Familiengeschichte und Ortsgeschichte. Kleine Archive, die es zu entdecken gilt.

Warum sind die Themen Tod und Sterben heute noch so ein großes Tabu?

Uns ist mehr und mehr die unmittelbare Erfahrung mit dem Tod abhandengekommen. Menschen sterben nicht mehr daheim wie früher, sondern in öffentlichen Einrichtungen fern des öffentlichen Lebens. Der Tod wird kaum gesehen und die Begleitung des Verstorbenen geschieht eher passiv, denn die wesentlichen Wege gehen der Pflegedienst, das Hospiz und dann der Bestatter mit dem Verstorbenen. Die dabei entstandene Distanz zwischen Leben und Tod bringt Unsicherheit und Angst. Verlust birgt Schmerz, den wir nicht fühlen möchten. Außerdem hat der medizinische Fortschritt den Tod altern lassen, unheilbare Krankheiten geheilt, weshalb nicht mehr gern über das Faktum Tod gesprochen wird.

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Auf was müssen sich die Teilnehmer der Führung in Stuhr gefasst machen?

Bei der Führung erfährt man vieles, was wir in uns tragen, weil es jahrhundertelang in uns verankert war. Es muss nur wieder reaktiviert werden. Die Führung ermöglicht einen ungezwungenen Umgang mit dem Tod und zeigt auf, dass nicht nur der Tod viele Facetten besitzt, sondern auch der Humor vieles erleichtert.

Wie hoch ist der Gruselfaktor?

Ob sich die Menschen bei den ein oder anderen Geschichten gruseln, hängt von der Dünn- oder Dickhäutigkeit des Einzelnen ab. Es sind die unterschiedlichen Befindlichkeiten, die sich in uns melden. Wenn Sie mich fragen, ist die Führung keineswegs gruselig, sie ist wissenschaftlich fundiert, humorvoll gewürzt und lehrreich und spannend zugleich.

Für wen ist die Führung geeignet?

Zu meinen Führungen kann jeder kommen. Sie sind für Ältere genauso geeignet wie für Jüngere und Kinder. Gerade die Kinder sind gern gesehen, gehen sie doch unbedarft und unbeschwert mit diesem Thema um. Das sollte man bewahren und fördern, damit dieser Generation ein gesunder und bewusster Umgang mit dem Leben und dem Tod möglich ist.

Sie bieten die Führung in ganz Deutschland an. Wie unterscheiden sich Rituale, die Bestattungskultur und die Friedhöfe?

Da die Kultur des Sterbens oft europaweit ähnlich war, Bräuche wie Totenwache, Trauerkleidung und Totenkronen in ganz Deutschland zu finden waren, ist es mir möglich, dieses Wissen breit zu streuen. Einige Regionen sind traditioneller als andere. Dort hat sich das Brauchtum länger gehalten: auf den ost- und nordfriesischen Inseln beispielsweise, wo es noch bis vor Kurzem eine Leichenbitterin gab, im ländlichen Raum oder auch in den Alpenregionen.

Wie bereiten Sie sich auf die Führungen vor?

Ich lese und forsche nach wie vor viel. Es kommen immer neue Geschichten hinzu, weshalb die Führung in verschiedene Teile untergliedert ist.

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Gibt es Besonderheiten des Stuhrer Friedhofes?

Der Friedhof bildet den passenden Rahmen für die Führung und die spezielle Thematik, dabei geht es nicht um Besonderheiten des Friedhofes, Grabsteine oder Persönlichkeiten, sondern um die Menschen, die den Tod versuchten zu verstehen, mit ihm zu leben und ihn feierlich zu zelebrieren.

Und welche speziellen Rituale oder Traditionen gibt es hier im Norden rund um Bremen?

Für das ehemalige Herzogtum Oldenburg ist das Buch "Aberglauben und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg" von Strackerjan maßgeblich. Hier ist zum Beispiel überliefert, dass das traditionelle Totenhemd selbst genäht wurde, wobei die Nadel stecken gelassen wurde, damit der Tote, falls sich eine Naht löst, diese selbst wieder festnähen könne.

Das Interview führte Eike Wienbarg.

Zur Person

Anja Kretschmer

hat Kunstgeschichte und Denkmalpflege studiert und ist promovierte Kunsthistorikerin. Von 2013 bis 2015 war sie für die Untere Denkmalschutzbehörde des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte als Sachbearbeiterin tätig. Seit 2015 arbeitet sie freiberuflich als Trauerrednerin und Friedhofsflüsterin. Kretschmer ist ehrenamtlich in drei Friedhofsvereinen, der Kasseler Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und im Verband der Friedhofsverwalter engagiert.

Zur Sache

Führung über den Alt-Stuhrer Friedhof

Als Schwarze Witwe aus dem Jahr 1898 führt Anja Kretschmer am Sonnabend, 30. September, erstmals über den Friedhof in Alt-Stuhr. Dabei erzählt sie, wie in den vergangenen Jahrhunderten gestorben und getrauert wurde, teilt Pastor Robert Vetter mit: „Vom schwer Sterben ist da die Rede und Todesvorzeichen wie dem Maulwurf oder dem Raben.“ Dabei werde der Bogen von den Bestattungsbräuchen bis hin zum Aberglauben gespannt. In der Dämmerung möchte sie den Besuchern ihre eigene Sterblichkeit sowie die Notwendigkeit von Ritualen näher bringen. Deshalb sind auch bei dieser Erlebnisführung Rituale garantiert. Die geheimnisvolle Dame tourt mit dem Friedhofsgeflüster durch ganz Deutschland und ist erstmals in Stuhr zu Gast.

Die Teilnahme kostet 15 Euro pro Person. Treffpunkt ist um 18 Uhr am Friedhof der Kirchengemeinde Stuhr, Stuhrer Landstraße 140. Die Führung dauert knapp zwei Stunden. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es telefonisch unter den Rufnummern 04 21 / 56 13 75 und 01 51 / 56 33 35 49 sowie im Internet unter der Adresse www.friedhofsgefluester.de.

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