Hambergen. Julian Gelies übt sich in Galgenhumor: "Ich bräuchte eigentlich eine Sekretärin, die sich um mein Handy kümmert", sagt der Trainer von Fußball-Bezirksligist FC Hambergen. Die Flut an Anrufen und Nachrichten, die seit vergangenem Sonnabend auf Gelies' Handy eingelaufen sind, übertraf jegliche Erwartungen: "So etwas habe ich wirklich noch nie erlebt", sagt der Coach. Es ist eine Aussage, die sehr trefflich umschreibt, was dem gerade aus Osterholzer Sicht eigentlich so prickelnden Titelkampf in der Bezirksliga gerade widerfährt: So etwas hat es schlichtweg noch nie gegeben!
Drei Spieltage vor Saisonende tritt ein Team nicht an, weil es keine Mannschaft zusammen bekommt – der Gegner kriegt drei Punkte und 5:0 Tore kampflos zugesprochen. Was an sich auch in der Kreisklasse oder Kreisliga am 10. Spieltag schon ein Unding wäre, bekommt in diesem Fall eine ganz spezielle Note. Denn bei dem "profitierenden" Verein handelt es sich um den Tabellenführer FC Hambergen. Und bei dem anderen Klub um den Heeslinger SC, dessen zweite Mannschaft am vergangenen Wochenende die Partie gegen die "Zebras" kurzfristig abgesagt hatte. "Ausgerechnet Heeslingen!" Das war der Kommentar, den man in den vergangenen Tagen vielerorts vernehmen konnte.
Und man kann diesen Zwischenruf gut nachvollziehen. Denn der seit jeher mit hohen Ambitionen ausgestattete Verein aus dem Landkreis Rotenburg ist im Prinzip ein Gegenentwurf zu vielen anderen Bezirksligisten. Die Heeslinger verfügen alleine in dieser Spielzeit über sage und schreibe vier (!) Herrenteams. Hinzu kommen unter anderem eine A-Jugend, eine Ü32 und eine Ü40. Julian Gelies spricht deshalb vielen aus der Seele, wenn er sagt: "Von Heeslingen hätte ich es am allerwenigsten erwartet, dass es zu einer Absage wegen Spielermangels kommt." Am Dienstag hatte Heeslingens Trainer Dominique Schneider Hambergen kontaktiert, weil sich andeutete, dass es knapp werden könnte.
Da die Absage letztlich nicht mit bestätigten Corona-Fällen begründet wurde, blieb Staffelleiterin Claudia von Kiedrowski gar nichts anderes übrig, als die Punkte dem FC Hambergen zuzusprechen. Und nun wird seit vergangenem Wochenende munter diskutiert und spekuliert: Ist der Bezirksliga-Titelkampf tatsächlich dadurch entschieden worden, weil ein nicht unerheblicher Teil der Heeslinger Mannschaft lieber den Aufstiegskampf in der 2. Bundesliga im und rund ums Weserstadion hautnah miterleben wollte? Genau das wird nun nämlich fleißig gemutmaßt.
Wer sich einmal die Mühe macht, und die diversen Spielklassen ab Bezirksliga abwärts durchsucht, der findet reihenweise Spiele, in denen einzelne Teams nicht antreten konnten, oder aber komplett ohne Auswechselspieler in die Partien am Sonntagnachmittag gingen. Bestes Beispiel ist der FC Worpswede: Auch dort waren zeitgleich einige Spieler im Weserstadion, dennoch traten die Künstlerdorf-Kicker ohne Reservespieler beim VSK Osterholz-Scharmbeck immerhin an – und hatten diesen am Rande einer Niederlage.
Wie die Entscheidung all jener Spieler zu bewerten ist, die wegen Werder beziehungsweise dem Profifußball eine eigene Partie sausen lassen, muss jeder selbst für sich beurteilen. Dass der eigene Fußball für viele nicht mehr den Stellenwert hat wie früher, ist keine Neuigkeit. Selbst an "normalen" Spieltagen ziehen etliche Amateurkicker einen Besuch im Weserstadion dem eigenen Punktspiel vor.
In gewisser Weise hatte sich das jetzt eingetretene Szenario also durchaus angekündigt. Dass es aber ein derart wichtiges Spiel betrifft, war im Vorfeld kaum vorstellbar gewesen. Und es wirft einen Schatten auf den Titelkampf, den dieser nicht verdient gehabt hätte. Für Thorsten Westphal ist das alles schlichtweg eine "Sauerei. Jegliches Wertesystem, das auf sportlicher Fairness beruht, wird mit Füßen getreten." Was den VSK-Coach aber fast noch mehr stört als die dubiose Absage als solches: "Es hat sich von Heeslinger Vereinsseite noch nicht einmal jemand gemeldet, oder vielleicht auch mal entschuldigt."
Auch für Hambergens Julian Gelies ist klar: "Das überschattet jetzt das Saisonfinale alles schon ziemlich doll." Pikanterweise muss der Heeslinger SC II am letzten Spieltag ja noch beim VSK antreten. Viele denken nun, dass es einer zumindest halbwegs fairen Lösung am nächsten kommen würde, wenn die Heeslinger auch auf diese Partie freiwillig verzichten würden. Doch auch dann wäre der Makel nicht verschwunden, wie Julian Gelies vermutet: "Wenn es so kommt, würde ich definitiv nicht protestieren. Aber selbst dann könnte am Ende immer das Argument kommen, dass wir gegen Heeslingen ja hätten straucheln können."
Auf der anderen Seite – und auch das gehört nun mal zur ganzen Wahrheit – hätte es in diesem Fall genauso gut dazu kommen können, dass die Heeslinger mit sechs Spielern aus der Ü40 in Hambergen antreten und in Folge dessen sogar mit 0:8 untergehen. "Dann hätten auch alle von Wettbewerbsverzerrung gesprochen", glaubt Julian Gelies vollkommen zurecht. Am Ende ist dieser unrühmliche Vorfall wohl die unschöne Schlussepisode einer von vielen Spielausfällen und ärgerlichen Vorkommnissen geprägten Corona-Saison – bei der wohl alle froh sind, wenn sie endlich vorbei ist und im Sommer eine reguläre Spielzeit gestartet werden kann.
Den richtigen Schluss zieht deshalb am Ende wohl Thorsten Westphal. Denn ausgerechnet der Trainer des VSK Osterholz-Scharmbeck hat trotz allem nachvollziehbaren Frust eine erfrischend reflektierte Sicht der Dinge: "Natürlich sind wir unglaublich enttäuscht, und natürlich macht das auch was mit meiner jungen Mannschaft – aber wir müssen das ganze Thema am Ende auch wieder runterkochen: Wir haben zweimal gegen den FC Hambergen verloren in dieser Saison. Und wenn sie am Ende tatsächlich Meister werden sollten, ist das alleine aufgrund dieser Tatsache absolut verdient."