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Das Porträt Als die Flut kam

Heinz v. Rex-Gröning war Vorsitzender des Ritterhuder Deichverbandes, als die Jahrhundert-Sturmflut am 16. Februar 1962 von der Weser ins Landesinnere drückte und seinen Heimatort Ritterhude bedrohte.
05.11.2021, 19:00 Uhr
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Als die Flut kam
Von Brigitte Lange

Ritterhude. Der Jagdflieger war nur ein Punkt am Horizont, als Heinz v. Rex-Gröning ihn bemerkte. Es war Erntezeit und er – 1943 gerade zwölf Jahre alt – lenkte den Ackerwagen von Hocke zu Hocke. Zwei polnische Mädchen standen hinter ihm und nahmen die Getreidegarben an, die die Kriegsgefangenen hochreichten. "Ich gab sofort den Befehl 'runter vom Wagen'", erzählt der Ritterhuder. Noch als sie an der Grabenböschung Schutz suchten, seien die Pferde mit der Ernte durchgegangen. Und obwohl der Flieger kehrt machte, sie ein zweites Mal mit Gewehrsalven überzog, wurde nur ein Tier getroffen. Eins der Mädchen war ebenfalls verletzt. "Sie hatte unter dem Wagen Schutz gesucht; ein Rad rollte über ihre Schulter."

Der 90-Jährige sitzt im Büro des Ritterhuder Dammguts während er die Jahre Revue passieren lässt. Der Raum war früher das Herrenzimmer des Herrenhauses, zu dem Dr. Georg Gröning, einst Bürgermeister von Bremen und für seine Dienste am Hof von Napoleon geadelt, das Anwesen mit seinem Sohn ab 1776 umgebaut hatte. Der Raum grenzt an den ältesten Teil des Gebäudes, das ursprünglich die Wasserburg der Ritter zu der Hude gewesen war. Der hiesige Zweig jener Familie sei im 18. Jahrhundert ausgestorben. Dadurch habe sein Vorfahre die Burg erwerben und zur Sommerresidenz machen können, weiß der Senior.

Folgen des Ersten Weltkrieges

Als Heinz v. Rex-Gröning 1931 geboren wird, lebt die Familie längst das ganze Jahr über an der Hamme. "Mein Großvater war der erste Landwirt in der Familie v. Gröning", erklärt er den 1892 eingetretenen Wandel. Die 1776 miterworbenen 16 Meierhöfe waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts abgelöst worden. Um den verbliebenen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb zu bewirtschaften, wurde ein Wirtschaftshof gebaut, wurden Flächen getauscht. "Der Bruder meiner Mutter sollte ihn übernehmen." Aber er fiel im Ersten Weltkrieg, und die Hyperinflation von 1923 verschlang das Familienvermögen. Nur das Dammgut sei ihnen geblieben.

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Seine Mutter Erna v. Gröning, die statt ihres Bruders das Anwesen übernahm, war gerade vier Jahre mit Gustav Adolf v. Rex verheiratet, als ihr Vater 1923 starb. In seinem Testament hatte er seinen heute 90-jährigen Enkel als künftigen Dammgut-Erben eingesetzt. Acht Jahre bevor dieser überhaupt geboren wurde. "Mein Großvater hatte den ersten männlichen Nachkommen meiner Mutter in seinem Testament zum Erben erklärt."

Heinz v. Rex-Gröning gönnt sich eine Schluck schwarzen Tee und berichtet von seiner Kinderlandverschickung nach Meißen im Zweiten Weltkrieg. Er erzählt von Phosphorbrandbomben, die den Viehstall des Dammgutes im Dezember 1943 trafen. Er war für die Ferien nach Hause gekommen. "293 Kopf Vieh hatten wir; alle sind rausgekommen; 19 Tiere starben an ihren Verletzungen." Ein Blindgänger landete im Pferdestall. Dann das Kriegsende, Flüchtlinge auf dem Dammgut, seine Ausbildung zum Landwirt, Meisterprüfung und die Übernahme des Hofes 1960, Ausbau der Forstwirtschaft, seine Heirat, die Anschaffung des ersten Treckers, der Abschied vom eigenen Milchvieh. 1981 schließlich die Aufgabe der Landwirtschaft, weil die Böden sich durch die Bewirtschaftung verzehrten. Und immer die Suche nach neuen Wegen, weiteren Standbeinen, Alternativen und Zukunftsperspektiven.

Größte Herausforderung

Seiner "größten Herausforderung", wie er sie nennt,  sah sich Heinz v. Rex-Gröning in einer stürmischen Winternacht 1962 gegenüber: der Jahrhundertflut vom 16. und 17. Februar. Ein Jahr zuvor war er zum Vorsitzenden des Deichverbandes Ritterhude gewählt worden. Im Deich- und Sielverband St. Jürgensfeld war er bereits. "Ich kann mich gut an den 16. Februar erinnern", erzählt er. Seit Wochen sei es regnerisch und stürmisch gewesen. Dann kam Orkan Vincinette. Am Vorabend habe Radio Norddeich gemeldet, dass der Sturm die Stärke neun erreichen würde. Am nächsten Tag habe das Wasser- und Schifffahrtsamt Bremen ihn telefonisch gewarnt, dass sie eine schwere Sturmflut erwarteten.

Er selbst befürchtete, dass die Hamme mit dem Nachthochwasser, das von der Weser über die Lesum bis in Hamme und Wümme drücken würde, über die Ufer treten und Grundstücke - darunter das Dammgut - überfluten würde. "Als Vorsitzender des Deichverbandes Ritterhude konnte ich aber nicht zu Hause bleiben." Tatsächlich saß er die Sturmflut mit dem Vorsitzenden des Teufelsmoorverbandes (heute GLV Teufelsmoor) Schlobohm und Thee, dem Direktor jenes Verbandes, im Ritterhuder Schleusenwärterhaus aus. Zuvor habe er noch die Ritterhuder vor der Gefahr gewarnt, vor allem die Anwohner der Beekstraße und des Vielenbruchswegs habe er aufgesucht.

Am frühen Abend des 16. Februars sei die Hamme bereits stark angeschwollen gewesen. Als er im Schleusenwärterhaus eintraf, habe er sich direkt dafür stark gemacht, die Tore der Schleuse zu öffnen. "Damit möglichst viel Sturmflutwasser ins Teufelsmoorgebiet abfließen konnte." Er habe befürchtet, dass andernfalls viel mehr Häuser in Ritterhude, ja selbst das Klärwerk und Bergolin betroffen sein würden. Nach kurzer Beratung stimmten Thee, der nicht glücklich war, da er um die niedrig gelegenen Ferienhäuser in Überhamm fürchtete, und Schlobohm zu. Die Tore wurden per Knopfdruck geöffnet, das Wasser schoss donnernd durchs Bauwerk und die Männer hielten den Atem an - bis um 3.45 Uhr, als mit 4,21 Metern über normal Null der Höchststand erreicht war.

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Nach der Sturmflut

"Tatsächlich sind die Wochenendhäuser in Überhamm regelrecht abgesoffen", erinnert sich der 90-Jährige. Aber der Druck von den Deichen war genommen. Zwar habe es Brüche am nördlichen Wümme-Ufer gegeben: einen Größeren in Höhe der Gastwirtschaft Wümmeblick, wie er am nächsten Morgen entdeckte, als er den Deich energischen Schrittes abging. Aber bis zur nächsten Tiede hatten sie diese mit Unterstützung der Bauern sowie der Soldaten aus Schwanewede geflickt. Der südliche Deich blieb - auch aufgrund des Bruchs bei Höftdeich - intakt. Nicht selbstverständlich: "Unter einem Haus in Wasserhorst war der Deich bereits angebrochen."

Auch das Dammgut überstand die Flut - mit einem gefluteten Park und 40 Zentimetern hoch Wasser im Keller. "Darauf schwammen Torfreste und unser Pökelfass", erzählt Heinz v. Rex-Gröning. Strom und Telefon waren tot, die automatische Versorgung der Hühner mit Futter und Wasser lahmgelegt. Die Heizung blieb kalt. "Nur hier im Büro hatten wir einen funktionstüchtigen Ofen." Mit der Fertigstellung des Lesum-Sperrwerks 1979, für das er als Deichverbandsvorsitzender viele Jahre gekämpft hatte, konnten die Ritterhuder schließlich auch bei Sturmflut ruhig schlafen.

Erst 2019, als er mit dem Deichhauptmann des Bremischen Deichverbandes über die damaligen Ereignisse sprach, sei ihm allerdings richtig bewusst geworden, wie wichtig die Öffnung der Ritterhuder Schleusentore 1962 gewesen war. Der Deichhauptmann habe nur trocken festgestellt: "Sie haben Bremen gerettet." Heute weiß Heinz v. Rex-Gröning: "Nicht nur die Wiesen des Blocklandes, auch viele andere Stadtteile von Bremen wären sonst überspült worden."

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