Landkreis Osterholz. Und plötzlich saß er da, die Fußballschuhe in der Hand. Genau wie Tim Wiese und Naldo, Ailton und Torsten Frings. Irgendwo dort, in der Werder-Kabine im Weserstadion, hatte sich Tobias Böttcher – direkt zwischen Aaron Hunt und Christian Vander – niedergelassen und kämpfte mit seiner Nervosität. Das Werder-Trikot am Haken, bereit übergestreift zu werden, ehe Trainer Thomas Schaaf die Aufstellung bekannt gibt.
Was sich wie ein völlig absurder Tagtraum anhört, ist für den langjährigen Spieler der TuSG Ritterhude am vergangenen Sonnabend zur Realität geworden. "Wobei es sich immer noch nicht so anfühlt, als ob es wirklich geschehen ist", sagt der 25-Jährige, hinter dem ein Wochenende liegt, an dem eigentlich nur eines vorgesehen war: Tobias Böttcher wollte sich – genau wie 41.000 andere Menschen auch – das Abschiedsspiel von Claudio Pizarro im Bremer Weserstadion anschauen. Als Zuschauer auf der Tribüne, als glühender Werder-Fan und großer Anhänger des so beliebten Peruaners. Doch es kam anders.
Denn der in Lesum wohnende Böttcher, der seit Sommer 2020 für Fußball-Landesligist TuS Harsefeld aufläuft, hatte an einem Gewinnspiel von Werder-Trikotsponsor Wiesenhof teilgenommen. Das Unternehmen hatte für das Abschiedsspiel eine sogenannte Wildcard ausgelobt. Jeder, der Interesse hatte, sollte unter den entsprechenden Instagram-Post schreiben, für welchen Verein und in welcher Liga er spielt. Am Ende waren fast 2000 Menschen aus ganz Deutschland diesem Aufruf gefolgt – und Tobias Böttcher wurde als einer von 20 Spielern zu dem offiziellen Probetraining am Tag vor dem großen Abschiedsspiel eingeladen.

Gruppenfoto mit lauter Werder-Legenden – und der langjährige Ritterhuder Kicker Tobias Böttcher nicht nur mittendrin, sondern auch noch direkt neben Claudio Pizarro.
Ein bisschen Warmmachen, ein bisschen Eckchenspiel und dann ganz normal kicken. "Man hatte ja wirklich überhaupt keine Idee, worauf da am Ende geschaut wurde. Alle, die da waren, konnten jedenfalls kicken", sagt Tobias Böttcher, der mit Maik Tiganj sogar einen früheren Teamkollegen von der TuSG Ritterhude dort antraf. Geleitet wurde die Einheit übrigens von den beiden Ex-Profis Nelson Valdez und Kevin Schindler, die nach dem Training mit Claudio Pizarro höchstpersönlich die Auswahl trafen. Und die Wahl fiel tatsächlich auf Tobias Böttcher. "Ich konnte das zunächst überhaupt nicht greifen, das war so unwirklich." Und Zeit, um nervös zu werden, hatte der Ex-Ritterhuder ohnehin nicht.
Denn direkt nach dem Probetraining in Bremen ging es zum Freitagstraining nach Harsefeld. "Als ich dann abends irgendwann ins Bett gegangen bin, war ich so erledigt, dass ich wirklich gut schlafen konnte", berichtet Böttcher. Doch die Nacht war schon früh beendet. "Ich bin um 7 Uhr aufgewacht, und dann ging auch wirklich nix mehr", verrät der Wildcard-Gewinner. Die Nervosität wurde von Stunde zu Stunde größer. Im Maritim-Hotel war für Böttcher extra ein Zimmer reserviert worden, von dort machte er sich gegen 14 Uhr auf den Weg ins Parkhotel, wo sich alle am Abschiedsspiel beteiligten Akteure trafen.
Als Unbekannter, ja, geradezu als Namenloser unter den früheren und aktuellen Fußballstars gab es jetzt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: sich in eine Ecke stellen und staunend zusehen – oder einfach auf die großen Namen zugehen. Böttcher entschied sich für Letzteres. "Ich bin dann erst mal zu Maxi Eggestein, weil der da gerade rumstand, und hab mich vorgestellt, danach bin ich dann zu Joko Winterscheidt, weil neben dem ein Stuhl frei war." Ohne Berührungsängste machte Böttcher die Runde und suchte das Gespräch. "Wirklich niemand schien genervt oder gelangweilt. Alle waren supernett und offen."
Um halb vier ging es dann für die Spieler mit dem Werder-Bus Richtung Stadion. Spätestens da wurde Böttchers Handyspeicher akut beansprucht. "Ich habe so viele Fotos und Selfies gemacht, das ist der Wahnsinn." Unter anderem auch von Johan Micoud, dem größten Kindheitsidol von Böttcher, mit dem er nun plötzlich gemeinsam in der Werder-Kabine saß und sich umzog. Böttcher bekam das Trikot mit der Nummer 99 und dem Aufdruck "Wildcard". Dann kam Trainerlegende Thomas Schaaf, um die Aufstellung zu machen. "Und da fragt der mich doch tatsächlich, wo ich am liebsten spielen möchte", berichtet Böttcher. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass das doch alles ein Traum sein muss. Und jetzt ging es ja erst richtig los.
Das Einlaufen ins Stadion ("Zum Glück war der kleine Junge an meiner Hand genauso nervös wie ich."), das Warmmachen vor der Ostkurve, in der so viele Freunde und Bekannte standen, und schließlich das Spiel als solches. Böttcher kam über den linken Flügel, eine Position, die er auch in Ritterhude und Harsefeld spielte und spielt. "Da greifen dann auch irgendwann Automatismen, man bewegt sich dann halt so wie immer." Und so wie immer heißt bei dem pfeilschnellen Blondschopf: mit großem Offensivdrang.
Eine tolle Brustablage von Aaron Hunt brachte Böttcher sehenswert volley aufs Tor, doch Felix Wiedwald parierte ebenso stark wie kurz darauf, als der Ex-Ritterhuder nach einem Stockfehler von Mikael Silvestre von der Mittellinie völlig alleine auf den früheren Werder-Torwart zulief. "Der Weg war einfach zu lang, 50 Meter auf die Ostkurve zulaufen, da hat sich dann der Kopf eingeschaltet und plötzlich denkst du wieder, was passiert hier eigentlich gerade?", erinnert sich Böttcher, der schon fast an Wiedwald vorbei schien, ehe der Keeper im letzten Moment doch noch an den Ball kam. "Ich musste mir hinterher natürlich viel anhören wegen dieser vergebenen Großchance", verrät der 25-Jährige.
Auf der anderen Seite gab es aber auch sehr viel Lob für einen ziemlich couragierten Auftritt mit einigen starken Szenen. Nicht nur im ersten Drittel gegen "Claudios Amigos", sondern auch im letzten Drittel gegen die mit früheren Weltstars gespickte Auswahl des FC Bayern München. Zwei komplette Trikotsätze bekam Böttcher für diese beiden Drittel, doch er zog nur einen an. Auf dem anderen Trikot ließ er hinterher alle Spieler unterschreiben. Nach dem offiziellen Ende der Partie, als die großen Feierlichkeiten mit dem Auftritt von Sänger Jan Delay und einer imposanten Lasershow begannen, huschte Tobias Böttcher schnell in die Ostkurve zu seinen Freunden. "Plötzlich wollten sich Kinder mit mir fotografieren lassen und ich musste Autogramme geben. Das war völlig surreal." Und genau so unwirklich ging der Abend dann weiter.
Denn Böttcher wurde kurzerhand noch auf die Gästeliste der großen Aftershow-Party im Parkhotel gesetzt – und fuhr schließlich mit Naldo zurück zum Bürgerpark. "Wir hatten am Stadion zusammen auf ein Taxi gewartet und uns dabei eine Zeit lang unterhalten, aber es kam einfach kein Taxi. Dann hat Naldo ein paar Freunde angerufen, die ihn abgeholt haben. Und ich durfte da mitfahren. Absolut unglaublich." So stand der junge Mann, der wegen seiner hellblonden Haare seit vielen Jahren nur "Michel" gerufen wird, am Ende auch noch zwischen all den Stars auf der großen Pizarro-Party und feierte bis tief in die Nacht.
"Es fühlt sich immer noch alles sehr unwirklich an", sagt Tobias Böttcher auch mit 48 Stunden Abstand. Für ihn ging es nach einer sehr kurzen Nacht direkt weiter mit Fußball. Punktspiel mit dem TuS Harsefeld bei Teutonia Uelzen, trister Landesliga-Alltag. Sogar auf dem Sportplatz in Uelzen wurde der Blondschopf erkannt und auf seinen großen Auftritt angesprochen. Für 59 Minuten reichte die Kraft noch, dann wurde Böttcher ausgewechselt. Am Abend fiel er völlig erschöpft ins Bett. Voll mit Erinnerungen und Eindrücken, die sich anfühlten, wie eine absolut verrückte Anhäufung völlig absurder Tagträume.