Freud’ und Leid liegen nur ein Stockwerk auseinander. Im Saal 1105 des Landtagsnebengebäudes bejubelt die neue, auf 24 Köpfe angewachsene Grünen-Fraktion erst ihre beiden Spitzenkandidaten Julia Willie Hamburg und Christian Meyer. Dann bekommt die wiedergewählte Abgeordnete Eva Viehoff aus Loxstedt nachträgliche Glückwünsche zum 64. Geburtstag, den sie just am Wahlsonntag gefeiert hatte. Der fröhliche Lärm dringt über das offene Treppenhaus bis zum Saal 1305 direkt darüber.
Dort leckt die FDP, die mit 4,7 Prozent den Wiedereinzug in den Landtag verpasst hat, ihre Wunden. Vor der Tür steht der bisherige Abgeordnete Marco Genthe aus Wehye und kämpft mit den Tränen. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so nahegeht“, gesteht der Rechtsanwalt nach fast zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit. Von drinnen erklingt später der Westernhagen-Song „Freiheit“, der ein Abschiedsfilmchen mit den schönsten Momenten der liberalen Fraktion musikalisch untermalt.
Nach der traurigen Sitzung tritt Spitzenkandidat Stefan Birkner vor die Kameras und verkündet nun auch offiziell, dass er als FDP-Parteichef zusammen mit dem gesamten Landesvorstand die persönlichen Konsequenzen aus dem Debakel zieht und sein Parteiamt abgeben wird. Die FDP brauche jetzt neue Köpfe. „4,7 Prozent sind eine Zäsur. Wenn jemand dafür steht, dann ich“, sagt der frühere Umweltminister. Mit dem Rücktritt werde er aber noch bis zum Parteitag im März warten, um so einen ordentlichen Übergang gewährleisten zu können. Dabei geht es auch um das Schicksal der rund 30 Fraktionsmitarbeiter, deren Zeitverträge zum 30. November auslaufen.
Der weitere Fahrplan
Am Dienstag nach der Wahl konstituieren sich traditionell die Fraktionen neu. Die Abgeordneten erhalten ihre Infomappen, die ersten Personalentscheidungen fallen, die nächsten Termine werden festgezurrt. Am Donnerstag beginnen die rot-grünen Gespräche mit der SPD über die künftige Regierung, wie die vorläufig mit ihren Vorstandskollegen im Amt bestätigte Grünen-Fraktionschefin Hamburg nun ganz offiziell ankündigt. Man kennt sich von 2013, man schätzt sich. Bei ersten Treffen gehe es aber noch nicht um Inhalte, sondern um den Fahrplan und die thematischen Arbeitsgruppen. Die konstituierende Sitzung des neuen Landtags für die 19. Wahlperiode ist am 8. November vorgesehen. Dort steht dann auch die erneute Wahl von SPD-Chef Stephan Weil zum Ministerpräsidenten an. Am darauffolgenden Tag könnte das Parlament dann bereits das Entlastungspaket für die Bürger beschließen.
Die CDU-Personalien
Die CDU-Fraktion wählt den 41-jährigen Abgeordneten Sebastian Lechner aus Neustadt zum neuen Fraktionschef. Amtsinhaber Dirk Toepffer hatte noch am Wahlabend hingeworfen. Gegenkandidaten, über die im Vorfeld spekuliert wurde, treten nicht an. Von 47 Parlamentariern stimmen 41 für Lechner, der Generalsekretär der Niedersachsen-Union ist. Die Frage, ob er auch die Nachfolge des zurückgetretenen Parteichefs Bernd Althusmann anstrebe, lässt der Diplomvolkswirt offen. Dafür kündigt er eine „konstruktive und offene Opposition“ an. Von der AfD werde sich die CDU klar abgrenzen: „Es wird keinerlei Zusammenarbeit geben.“ Der bisherige Parlamentsgeschäftsführer Jens Nacke wird seine Aufgabe zunächst kommissarisch weiterführen.
Die SPD-Personalien
Zwar eröffnet Ministerpräsident Weil unter dem Jubel seiner 56 Abgeordnetenkollegen die Fraktionssitzung im Interimsplenarsaal des Landtags. Aber dann gibt er die Federführung an Parlamentsgeschäftsführer Wiard Siebels weiter, der auch in den nächsten Wochen die Fraktion kommissarisch leiten wird. Die neue Spitze soll erst später gewählt werden, wenn sich die Abgeordneten näher zusammengefunden haben. Dabei gilt es regionale Befindlichkeiten der vier SPD-Bezirke zu berücksichtigen. Insbesondere die durch gute Wahlergebnisse gestärkten Braunschweiger beanspruchen künftig mehr Mitsprache.
Die Rolle der AfD
Die 18 Abgeordneten der AfD wählen am späten Nachmittag erwartungsgemäß ihren Spitzenkandidaten Stefan Marzischewski zum Fraktionsvorsitzenden. Dieser bekommt alle Stimmen. Derweil laufen hinter den Kulissen die ersten Überlegungen der drei anderen Fraktionen, wie man mit den Rechtspopulisten umgehen soll. Erstes Problem: Nach der Geschäftsordnung des Landtags obliegt die Eröffnung der neuen Wahlperiode dem Alterspräsidenten. Den aber stellt die AfD mit ihrem 66-jährigen Abgeordneten Jozef Rakicky. Um seinen symbolischen Auftritt zu verhindern, müssten SPD, CDU und Grüne die Regeln ändern – was die Rechtspopulisten in die Opferrolle drängen würde.
Noch heikler gestaltet sich die Wahl der vier Landtagsvizepräsidenten, deren Amtszeit normalerweise auf fünf Jahre angelegt ist. Gesteht man der AfD einen dieser lukrativen und einflussreichen Posten zu? Diese werden vom gesamten Landtag gewählt. Die Neigung bei den drei anderen Fraktionen, für einen AfD-Kandidaten zu votieren, liegt bei Null. Schon 2017 war die AfD dabei leer ausgegangen – allerdings ebenso wie die FDP.