Während des Europawahlkampfs fehlte das Projekt in keiner Rede der Kandidaten. Die EU müsse für ihre Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie kämpfen, wurde gefordert. Sie seien erstmals in der Geschichte der Union aus den eigenen Reihen heraus gefährdet.
Wenn es für diese schwerwiegende Erkenntnis noch eines Beweises bedurft hätte, hat ihn der ungarische Premier Viktor Orbán mit seiner gesetzlichen Ausgrenzung von Homosexuellen geliefert. Die europäische Geschichte kennt viele eklatante Formen von Diskriminierung, dieses Gesetz gehört zu den besonders unverfrorenen Verstößen. Doch inzwischen gibt es, so könnte man denken, einen Rechtsstaatsmechanismus, der solche offenen Verstöße gegen die Menschenrechtscharta der Gemeinschaft verhindert. Er trat am Jahresanfang in Kraft – wird aber nicht angewendet. Offizieller Grund: Bisher lagen keine konkreten Ausführungsbestimmungen und Verfahrensschritte vor.
Den Europa-Abgeordneten platzte vor wenigen Wochen der Geduldsfaden und sie beschuldigten die federführende Kommission der Untätigkeit. Unabhängig davon, dass man den neben Ungarn besonders ins Visier geratenen Regierungen in Polen, Tschechien, der Slowakei und neuerdings auch Slowenien eine Schonfrist bis zur Überprüfung des Mechanismus durch Europas höchstes Gericht versprochen hat – Brüssel hätte die Anwendung längst vorbereiten können. Was bisher aber auf dem Tisch liegt, ist ein bürokratisches Monster. Es erweckt einen bitteren Eindruck: Soll der Rechtsstaatsmechanismus am Ende auf dem Umweg über ein zu sperriges Verfahren ausgehebelt werden?
Es stimmt: Wer gegen ein EU-Mitglied vorgehen und ihm am Ende sogar die Gelder streichen will, benötigt rechtlich einwandfreie Argumente. Auch sollte die Kommission alles dafür tun, um bei solchen Verfahren nicht den Eindruck von Parteilichkeit zu erwecken. Trotzdem muss dieser Mechanismus funktionieren. Bisher sieht es nicht danach aus, denn die Entschlossenheit am Anfang der Legislaturperiode ist einer Strategie des Verschiebens gewichen. Die nützt aber nur den Regierungen, die man eigentlich unter Druck setzen wollte.
In immer mehr Staaten im Osten der EU existieren Grundwerte wie Presse- und Meinungsfreiheit nur auf dem Papier. Fälle von Korruption häufen sich. Funktionierende Justizsysteme werden durch die Besetzung mit linientreuen Juristen unter Aufsicht der Regierung faktisch entmachtet. Das passiert nicht in einem unterentwickelten Land in der Ferne, sondern mitten in Europa. Die Gemeinschaft schaut zu und sorgt durch regelmäßige Alimentierung der dortigen Regierungen für eine Stabilisierung der Verhältnisse. Der Rechtsstaatsmechanismus sollte disziplinieren und den Weg zurück zu demokratischen Tugenden ebnen. Tatsächlich wird er jedoch so konstruiert, dass er seine eigentlich "erzieherische“ Wirkung zu verlieren droht.
Einstimmigkeit heißt Erpressungspotenzial
Seit mehr als zehn Jahren klagt die Union die Demontage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn an, seit mehr als fünf Jahren in Polen. Verändert wurde nichts. Immer offener bauen die beschuldigten Regierungen ihre Demokratien so um, das von Gewaltenteilung oder Minderheitenschutz keine Rede mehr sein kann. Den neuen Rechtsstaatsmechanismus müssen Budapest, Warschau oder Ljubljana nicht fürchten, denn zum Verfahren gehören einstimmige Beschlüsse. Und Einstimmigkeit heißt Erpressungspotenzial. Dass zumindest Polen und Ungarn nicht zögern, die Gemeinschaft zu blockieren, um willfährige Zusagen zu erhalten, haben sie beim Streit um den Haushaltsrahmen für die Jahre bis 2027 und beim Asylrecht gezeigt.
Es gibt eine kleine Hoffnung, dies zu ändern. Dann aber müssten sich die engagieren, die gerne „die“ EU für alles, was schief läuft, in die Pflicht nehmen. An diesem Wochenende beginnt die Zukunftskonferenz der Union, bei der auch die Bevölkerung sagen kann, welche Gemeinschaft sie künftig wollen. Das wäre die Stunde der Bürger, die aufstehen, mitmischen und dafür demonstrieren, dass eine EU, in der Grundwerte von einigen geschliffen werden, nicht ihre Vorstellung von Gemeinschaft ist.