Es ist Sonntag, der 8. Dezember 2024, und Ahmed al-Scharaa, bekannt auch unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dschulani, ist an seinem Ziel angelangt. Er steht in der berühmten Umayyaden-Moschee in Damaskus und spricht zu seinen Anhängern. „Dieser Sieg, meine Brüder, ist ein Sieg für die gesamte islamische Nation“, sagt der Anführer der islamistischen Rebellenmiliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) ins Mikrofon. Nur wenige Stunden zuvor war die syrische Hauptstadt gefallen, Diktator Baschar al-Assad geflohen.
In Bagdad sah man diese Bilder mit Entsetzen. Was sich in Damaskus dem Beobachter darbietet, erinnert schmerzlich an 2014, als der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi in der Al-Nuri-Moschee in Mossul sein Kalifat ausrief. Es folgte eine über mehr als drei Jahre währende Herrschaft der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), dessen Chef Baghdadi war, über ein Territorium so groß wie England. Die Grausamkeiten der Dschihadisten kannten keine Grenzen. Noch heute werden Massengräber von massakrierten Jesiden, Christen und auch Schiiten gefunden, ist die Massenexekution von jungen Rekruten im Militärcamp Speicher bei Tikrit noch nicht gänzlich aufgearbeitet, säumen noch immer Trümmerfelder von zerbombten Gebäuden die Straßen in den nördlichen irakischen Provinzen Nineva und Salahuddin. Das unermessliche Leid, das der IS über das Land gebracht hat, kann so schnell nicht verarbeitet werden. Vergessen wird es wohl nie.
Und jetzt also ein Déjà-vu in Syrien? Nicht nur der Auftritt des islamistischen Anführers der HTS in der Moschee in Damaskus erinnert an das Szenario im Irak, sondern auch die Art und Weise, wie die HTS-geführten Rebellen vorgingen. Auf offenen Pick-ups rollten sie in Windeseile über die Hauptstraßen und eroberten das Land im Blitzkrieg. Die Strategie des IS vor zehn Jahren ging auch jetzt wieder auf. Im Irak allerdings stellten sich ihnen schiitische Milizen in den Weg und stoppten den Eroberungszug gut 80 Kilometer vor Bagdad. In Syrien rollten sie ungebremst durchs ganze Land. Daraufhin schloss der Irak sofort seine Grenzen zu Syrien, ließ lediglich die desertierten Soldaten der Assad-Armee, die keinen Grund mehr für ihren Einsatz sahen, passieren. Auch das eine verblüffende Parallele zu vor zehn Jahren, als die irakischen Soldaten sich ebenfalls aus dem Staub machten, da sie nicht für ihren verhassten Premierminister Nuri al-Maliki kämpfen wollten.
Der HTS-Chef ist im Irak kein Unbekannter und hat hier seine Karriere als Terrorist begonnen. Al-Dschulani – der Name bedeutet „aus dem Golan stammend“ – hat sich schon früh Al-Kaida im Irak angeschlossen. Dass er zusammen mit Abu Mus’ab al Sarkawi aus Jordanien die Organisation im Irak aufgebaut hat, bestreitet er. Inzwischen stellt er sich als einfacher Fußsoldat der Terrororganisation dar, was definitiv nicht der Fall war, wie unterschiedliche Quellen im Irak bezeugen. Jedenfalls beteiligte er sich aktiv am Kampf gegen die amerikanischen Besatzer, hat aber auch Iraker auf dem Gewissen, die mit den US-Truppen zusammenarbeiteten oder mit der von US-Administrator Paul Bremer eingesetzten Übergangsregierung.
2006 wurde er festgenommen und durchlief so ziemlich alle Gefängnisse, angefangen vom berüchtigten Foltergefängnis Abu Ghraib bis zum mit 30.000 Insassen fassenden größten Gefangenenlager Camp Bucca südlich von Basra. Dort saßen alle ein, die später den Kader des IS bildeten: ehemalige hochrangige Offiziere des irakischen Widerstands aus der Saddam-Hussein-Armee, internationale Terroristen von Al-Kaida und Mitglieder anderer ebenfalls islamistischer Gruppen wie Ansar al-Sunna. Auch der spätere IS-Chef Baghdadi war in Bucca inhaftiert. Im Wüstensand wurden Pläne geschmiedet und ein islamischer Staat konzipiert. Als die US-Truppen den Irak 2011 verließen, lösten sie die Gefangenenlager auf und al-Dschulani kam frei. Nur wenige Wochen später rief Abu Bakr al-Baghdadi die Terrormiliz Islamischer Staat aus, al-Dschulani gründete die Al-Nusra-Front. Der syrische Bürgerkrieg hatte begonnen.
Völlig unverständlich ist, dass die USA erst 2013 al-Dschulani als Terroristen einstuften und für seine Verhaftung zehn Millionen US-Dollar auslobten, nachdem er nur zwei Jahre vorher noch im US-Gefängnis im Irak einsaß. Der Fall zeigt, wie chaotisch die Gemengelage für die Amerikaner damals war. Durch den Aufstieg des IS, dessen Kalifat sowohl Teile Syriens und des Irak umfasste, verschwammen die Grenzen. Zur Bekämpfung der Terrormiliz kamen die US-Truppen zurück in die Region, wenn auch in reduzierter Stärke. Als Russland 2015 ins Kriegsgeschehen in Syrien auf der Seite Assads eingriff und den Einfluss der Amerikaner zurückdrängte, änderte sich die Situation für al-Dschulani. Jetzt agierte er gegen die Russen zum Wohlwollen der Amerikaner. Er rief andere Dschihadisten im Nordkaukasus zu Racheaktionen gegen russische Zivilisten und Soldaten auf, zog sich selbst aber in die Region Idlib zurück. Von dort aus trat der Mann vom Golan nun seinen Siegeszug nach Damaskus an. Formal besteht immer noch das Kopfgeld auf ihn mit zehn Millionen Dollar.