Herr Töpfl, welche Rolle spielen russische Medien im Informationskrieg während der Invasion in die Ukraine?
Florian Töpfl: Mittlerweile sind alle reichweitenstarken russischen Medien staatlich gelenkt. Den Anteil der Bevölkerung, der sich über regierungskritische Medien informiert, hätte ich vor dem Kriegsausbruch auf deutlich unter zehn Prozent geschätzt. In Umfragen nennen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung die großen nationalen Fernsehkanäle als Hauptinformationsquellen. Letztere werden vom Kreml gesteuert. Ich beobachte die russischen Staatsmedien seit mehr als zehn Jahren. Gerade seit der Annexion der Krim hat sich die Berichterstattung zunehmend militarisiert.
Wie hat sich die Berichterstattung militarisiert?
In den Hauptnachrichtensendungen tauchten immer häufiger Bilder von Waffen und Gefechten auf. Berichtet wird über neue Raketentechnik, Übungen der Armee und Militärmessen. Medial wird so eine Welt gezeichnet, in der Waffen und Militär Teil des Alltags sind, in der internationale Konflikte regelmäßig mit Gewalt gelöst werden und in der Russland von einer Schar böswilliger Feinde umgeben ist. Dies zu beobachten, hat mich schon lange vor der jüngsten Eskalation mit großer Sorge und Traurigkeit erfüllt.
Von welcher Erzählung wird die Invasion der Ukraine begleitet?
Die Aggression gegen die Ukraine wurde mit der Gefahr der Ausdehnung der Nato nach Osten begründet, die als massives Sicherheitsrisiko dargestellt wurde. Ein zweites, aus westlicher Sicht kaum nachvollziehbares Argument war ein vermeintlicher „Genozid“ in Donezk und Luhansk. Die UN-Definition von Völkermord gibt diese Interpretation nicht her.

Florian Töpfl erklärt, dass sich seit der Anexion der Krim die Berichterstattung in den russischen Medien militarisiert hat.
Wegen Putins Genozid-Vorwurf an die Ukraine, denken viele Menschen, dass der Kremlchef völlig durchgedreht ist.
Dass vielen Russinnen und Russen Narrative wie jene rund um den Genozid plausibel erscheinen, lässt sich nur dadurch erklären, dass sie seit Jahren in einer medialen Welt leben, in der die Geschichte ihres Landes und das tagesaktuelle Geschehen aus einer völlig anderen Perspektive erzählt werden. Man kann sich das vielleicht vorstellen wie ein riesiges Gemälde mit unzähligen Details, das in den Köpfen der Menschen über viele Jahre gezeichnet wurde. Die Begründung der jüngsten Aggressionen ist dabei nur eine weitere Szene, die sich mit einigen wenigen Pinselstrichen perfekt in die Komposition einfügt. Anders ausgedrückt: Plausibel und stimmig erscheinen viele Argumente Putins nur Menschen, die seit Jahren in dieser medial vermittelten Welt leben. Umgekehrt ist es genauso: Viele der Argumente, die wir Europäer für Sanktionen und Waffenlieferungen ins Feld führen, ergeben für Russinnen und Russen, die seit Jahren regelmäßig Staatsfernsehen schauen, keinen Sinn.
Eines der für den Westen kaum nachvollziehbaren Argument ist die vermeintlich notwendige „Entnazifizierung“ der Ukraine.
Das ist wirklich kaum nachvollziehbar. Allerdings gibt es in der ukrainischen Geschichte tatsächlich einige durchaus zweifelhafte Figuren, die man als „Nazis“ bezeichnen kann und die von einigen Gruppen in der heutigen Ukraine verehrt werden. Diese Problematik wurde in der Erzählung der russischen Staatsmedien seit Monaten stark in den Vordergrund gerückt. Putin geht nun einen Schritt weiter und fordert eine umfassende „Entnazifizierung“ der Ukraine. Das macht vielen Menschen vor Ort große Angst. Sie befürchten, dass die neuen Machthaber nach dem geplanten Sturz der ukrainischen Regierung unter dem Banner der „Entnazifizierung“ nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern gegen alle dem Westen und der Demokratie zugeneigten Personen vorgehen werden. Also gegen Aktivisten, politische Eliten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten. Mit welchen Mitteln ist unklar. Die derzeitige ukrainische Führung als Nazis zu bezeichnen, scheint jedoch selbst in den aktuellen Narrativen des Kremls kaum plausibel.
Ist zu erwarten, dass russische Medien jetzt noch stärker gleichgeschaltet werden?
Ja. Regierungskritische Journalisten und Medien müssen noch härtere Repressionen befürchten. Die russische Führung hat am Wochenende angekündigt, Twitter zu verlangsamen und Facebook teilweise zu sperren. Kritische Medien wurde unter Androhung von Schließung aufgefordert, die Geschehnisse in der Ukraine nicht mehr als „Krieg“, „Invasion“ oder „Angriff“ zu bezeichnen. Stattdessen sollen sie künftig den offiziellen Terminus „Spezialoperation“ benutzen.
Wieso hat Putin kritische Öffentlichkeit so lange zugelassen?
Die Existenz kritischer Medien war lange Zeit ein wichtiges Element der Legitimationsstrategie der russischen Führung. Selbst in den Staatsmedien wurde ganz klar die Botschaft vermittelt, dass Russland eine Demokratie sei. Entsprechend beanspruchte Putin für sich, aufgrund von „freien“ und fairen Wahlen zur Herrschaft legitimiert zu sein. Diese Behauptung wäre den eigenen Bürgern nicht plausibel erschienen, hätte es bei den Wahlen nicht zumindest einige halbwegs aussichtsreiche Gegenkandidaten gegeben und einige kritische Medien, die diese Kandidaten unterstützten. Deshalb bedeutet die sich nun abzeichnende Zensur aller kritischer Medien auch einen grundlegenden Wandel der russischen Herrschaftsstruktur. Sollte Putin die zu erahnenden innenpolitischen Erschütterungen der nächsten Wochen im Amt überstehen, wird das russische politische System danach ein grundlegend anderes sein. Es wird keine semi-kompetitiven Wahlen mehr geben.
Schon jetzt wird der Geheimdienstchef von Putin öffentlich gemaßregelt wie ein kleines Kind, wenn er nicht zu 100 Prozent auf Linie ist.
Da Putin selbst von seinen engsten Vertrauten offensichtlich kaum ehrliches Feedback mehr erhält, kann er nicht mehr zuverlässig beurteilen, was in seinem Land passiert. Dieses grundsätzliche Problem haben auch viele andere Autokraten. Es wird als „Informationsdefizit“ in zahlreichen Studien beschrieben. Der Autokrat bekommt nur noch zu hören, was er hören will. Das isoliert Putin und macht ihn gefährlich. Auch in seiner Kommunikation wirkt Putin derzeit einsam und losgelöst von den Menschen, über die er herrscht. In den Medien tritt er formell gekleidet auf, durchschreitet riesige Hallen und sitzt an gewaltigen Tischen. Der Kontrast zum ukrainischen Präsidenten Selenskyj könnte eindrücklicher kaum sein. Selenskyj filmt seine Ansprachen selbst mit dem Handy und hat oft nur ein Armee-T-Shirt an. Während Selenskyj sich trotz Feindbeschusses auf die Straßen Kiews wagt, bewegt Putin sich meist nur im Polizeikonvoi über gesperrte Straßen durch Moskau.
Klingt nicht so, als könnte Putin damit die Mehrheit in seinem Land hinter sich bringen.
Laut Umfragen haben die Anerkennung von Luhansk und Donezk als selbstständige Staaten noch viele Menschen in Russland mitgetragen. Die groß angelegte Invasion der gesamten Ukraine – und die schrecklichen Bilder, die dadurch entstehen – treffen meinem Gefühl nach aber nun viele Russen in ihrem tiefsten moralischen Empfinden. Und auch wenn nahezu alle reichweitenstarken Medien unter der Kontrolle des Kremls stehen, wird die russische Führung aus meiner Sicht die Verbreitung einiger weniger ikonischer Bilder oder bewegender Videos über das Internet nicht verhindern können. Zumal viele Russen persönliche Verbindungen in die Ukraine haben.
Warum begehren dann nicht mehr Menschen in Russland gegen Putins Krieg gegen die Ukraine auf?
Weil sie große Angst haben, sich offen gegen Putin zu stellen. Wer sich beispielsweise am Wochenende auch nur als Einzelperson auf einen Platz stellte und ein Schild hochhielt, auf dem „Nein zum Krieg“ stand, wurde verhaftet. Nicht auszuschließen war dabei, dass man dafür mehrere Jahre im Gefängnis landete. Jeder Oligarch, der das Wort „Krieg“ auch nur in den Mund nahm – und nicht von einer „Spezialoperation“ sprach – setzte sein Milliardenvermögen aufs Spiel. Die Oligarchen Oleg Deripaska und Michail Fridman sind dieses Risiko in den vergangenen Tagen dennoch eingegangen. Vor diesem Hintergrund muss man die Zahlen der Protestierenden und Abweichler in den vergangenen Tagen beurteilen.